„Aneignung der Gegenwart“ und Little Warsaw in Leipzig

Keine Spur von der inneren Wahrheit

Die Szene gleicht einem Schlachtfeld. Es wird geschossen, gestorben, triumphiert und kapituliert - wenn auch im verkleinerten Maßstab. Maximal einen halben Meter sind die Krieger groß, die kleinsten messen gerade mal fünfzehn Zentimeter. Trotz dieser bescheidenen Körpermaße sind ihr Stolz und ihr Pathos immens: Wenn sie getroffen zu Boden gehen, dann mit weit ausholenden Armbewegungen. Wenn sie einen Pfeil abschießen, dann ist jeder Muskel gespannt. Und natürlich dürfen Fahnen, Pferde, Waffen und Uniformen in diesem Miniatur-Spektakel nicht fehlen.

Zu verdanken haben wir dieses Schauspiel dem ungarischen Künstlerduo „Little Warsaw“. András Gálik und Bálint Havas haben aus öffentlichen Sammlungen ihrer Heimatstadt Budapest - darunter das Museum für Geschichte sowie das Verteidigungsministerium - knapp einhundert Statuetten entliehen, die nun in der Leipziger Galerie für Zeitgenössische Kunst um die „innere Wahrheit kämpfen“. Soweit der Ausstellungstitel. Tatsächlich ist in sämtlichen Begegnungen, die sich zwischen den Skulpturen aus dem 19. und 20. Jahrhundert ergeben, Gefahr oder Gewalt im Spiel. Aber keine Spur von der inneren Wahrheit: Versteckt sie sich vielleicht hinter dem Holzbrett, das einem Partisanen Schutz bietet? Oder in den drei hellblauen Objekten, die die Künstler in die Installation integriert haben? Von einem dieser Fremdkörper, der wie ein Kissen aussieht, fährt munter ein kleiner Mann auf Skiern herunter. Als einziger scheint er unbeeindruckt vom allgemeinen Kampfgeschehen.

Auch anderswo in der Galerie wird gerungen - allerdings im übertragenen Sinne. Im ersten Teil der Sammlungsausstellung „Aneignung der Gegenwart“ ist die Bewältigung der Vergangenheit, besonders der DDR-Zeit, ein wiederkehrendes Thema. In Neo Rauchs „Großküche“ von 1995 ist sie zu spüren, ebenso in den Fotos, die Thomas Struth 1991 von menschenleeren Leipziger Straßenzügen machte. Wie sich der SED-Staat junge Frauen wünschte, wird in Mandy Gehrts Arbeit „Zwischen vierzehn und achtzehn“ deutlich: Ein Beamer projiziert Schwarz-Weiß-Fotos von Mädchen an die Wand - in der Schule, beim Arbeiten, am Strand. Den Titel entlehnt die Künstlerin von einem Ratgeber aus dem Jahr 1958, der auf einem Tisch anbei zum Blättern bereit steht.

Das Werk, das wohl am besten zum Titel der Ausstellung passt, kommt von Carola Dertnig: „A performance is never the same“ besteht aus Collagen auf Millimeterpapier, die jeweils auf einen berühmten Künstler und seine Performances Bezug nehmen. Als verzeitlichter Akt gehört die Performance ganz der Gegenwart. Man kann sie sich nur über Hilfsmittel wie Fotos, Notizen oder Skizzen aneignen, die Dertnig in ihren Collagen kombiniert. Auch die Reihe „Time Exposure“ von Ioana Nemeş nimmt mit ihren farbigen, rätselhaften Tafeln Bezug auf die Zeit - ohne dass sich aus den darauf festgehaltenen Zeichenfolgen wie „P:0E:+2I:O“ ein Sinn erschließen würde.

Zugänglicher sind die „Großmeister der Täuschung“ von Sven Johne: Fünf unscharfe Fotos von jeweils einem anderen Gesicht dienen als Hintergrund für Texte, die eine kuriose Episode aus dem Leben einer Person erzählen. Immer geht es dabei um kauzige Simulanten: Claus-Dieter Henning aus Stralsund zum Beispiel erfand die Sportart des „Konfliktschachs“ und behauptete, er sei selbst „Großmeister“ darin. Um das Ganze glaubhaft zu machen, baute er aufwändig verzierte Pokale – er gab vor sie bei angeblichen Turnieren gewonnen zu haben. Was klingt, wie eine skurrile, aber überzeugende Nachricht aus der Rubrik „Vermischtes“, und den Leser unweigerlich zum Schmunzeln bringt, ist selbst bloße Fiktion. Als wahrer Großmeister der Täuschung entpuppt sich der Künstler.

Little Warsaw - Kampf um die innere Wahrheit, bis 9. Dezember
Aneignung der Gegenwart, bis 24. Februar 2013
Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig