100 Jahre Leica-Fotografie

Als die Fotografen laufen lernten

Klein, praktisch, gut: 1914 wurde die Leica erfunden – die Kamera prägte die Bildsprache des 20. Jahrhunderts. Ein Gespräch mit Hans-Michael Koetzle, dem Kurator der Ausstellung "Augen auf!" in Hamburg

Hans-Michael Koetzle, die Fotografie feiert in diesem Jahr ihren 175. Geburtstag, die Leica wird 100. Welche Rolle spielt die Kleinbildkamerain der Geschichte der Fotografie?
Ohne Übertreibung kann man sagen, dass die Leica und das Kleinbild das 20. Jahrhundert als Kamerasystem und als Art, die Welt wahrzunehmen, dominiert haben. Die Erfindung 1914, die Markteinführung 1925 waren Meilensteine nicht nur in technischer, sondern auch in phänomenologischer Hinsicht.

Was zeichnet die Leica gegenüber den bis dahin üblichen Plattenkameras aus?
Die Idee einer Kamera mit Kinofilm lag um 1900 buchstäblich in der Luft. Kameras kleiner zu machen war das Ziel mehrerer Tüftler, doch den Geniestreich vollbracht hat am Ende Oskar Barnack, damals Leiter der Versuchsabteilung bei Leitz in Wetzlar. Er hat die Kamera bewusst klein gehalten, er hat das übliche Kinofilmformat verdoppelt auf 24 x 36 Millimeter und damit das bis heute gängige Kleinbildformat etabliert. Durch den Kinofilm wurde serielles Fotografieren möglich, 36 Bilder in schneller Folge. Das Material war billig, da konnte man experimentieren. Die Leica wog 425 Gramm, das war nichts im Vergleich zu den Plattenkameras. Man konnte sie in der Jackentasche mitnehmen, spontan reagieren. Jeder Laie konnte sie handhaben; gerade junge Leute waren mit die Ersten, die die Leica genutzt haben. Darunter übrigens auch sehr viele Frauen. Die Leica galt nicht zuletzt dank der blitzenden Metallteile als Schmuckstück, und sie verkörperte ein neues Selbstbewusstsein: die Frau, die sich mit der
Kamera selbstständig durchs Leben schlägt.

Stimmt es, dass Oskar Barnack an akutem Asthma litt und nach einer leichten Kamera suchte, weil er das Equipment einer Plattenkamera nicht tragen konnte?
Er war im Grunde fast invalide, oft krank und arbeitsunfähig. Ernst Leitz hat ihn dennoch eingestellt, weil er in diesem Mann etwas sah, was wir heute mit Steve Jobs verbinden: einen genialen Konstrukteur, der die Zeichen der Zeit erkannte und mit der Leica eine schöne und zudem äußerst praktikable Erfindung
machte. Dazu beigetragen hat sicherlich, dass Barnack selbst ein besessener Fotograf war.

Henri Cartier-Bresson sagte: "Die Leica ist die Verlängerung meines Auges." Ist sein Konzept des "entscheidenden Augenblicks" durch die Geschwindigkeit des Apparats überhaupt erst möglich geworden?
In der Fotogeschichte findet man auch vorher schon lebendige, dynamische Bilder. Aber mit der Leica wurde der Schnappschuss zum integralen Bestandteil der Fotografie. Cartier-Bressons Diktum ist auch insofern treffend, als die Kamera zum Teil des Körpers wird. Man berührt sie und hält sie vors Gesicht – das kann man von den Plattenkameras ja nicht sagen, die standen häufig auf Stativ und glichen eher polierten Kleinmöbeln. Die Leica ermöglicht es, auf einen Augenblick zu reagieren. Die Zeit war reif für eine schnellere, dynamischere Fotografie. In der Literatur jener Zeit ist ständig von einem technischen Umbruch die Rede, von Rausch, Geschwindigkeit, Elektrizität, Wolkenkratzern, Flugzeugen. 1925 bringt Moholy-Nagy sein Buch "Malerei, Fotografie, Film" auf den Markt, Gropius ist dabei, das Bauhaus Dessau zu entwerfen, Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin" kommt in die Kinos. In diesem Schlüsseljahr der Moderne kommt eben auch diese kleine Kamera auf den Markt.

Jenseits der Avantgarde-Bewegungen ist die Leica auch maßgeblich für die Entwicklung des Fotojournalismus und die neuen Illustrierten jener Zeit.
Es gab Pressefotografie vor der Leica. Diese Fotografen arbeiteten in der Regel mit einer 13 x 18-Plattenkamera, das heißt, sie waren auf ein Bild abonniert. Jetzt kommt die leicht zu bedienende Leica, die jungen Leuten, auch Seiteneinsteigern, eine neue Chance bietet. Erich Salomon, der eigentlich Jurist war, der zum Kunsthistoriker ausgebildete Walter Bosshard oder Tim Gidal – sie griffen zu dieser Kamera und bedienten eine sich stürmisch entwickelnde Presse, die hungrig war nach Bildgeschichten, nach seriellem Erzählen, der Reportage. Diese Geschichten haben einen Aufmacher, einen Mittelteil und ein Ende statt eines inszenierten Einzelbildes, sie sind lebendig und lebensnah. In den Redaktionen sitzen Blattmacher über den Layouts und können aus einer Vielzahl Bilder wählen. Ein wunderbares Beispiel:
Robert Capa fotografiert 1936 in Genf die Verhaftung eines Journalisten. Es ist ein völlig unscharfes, von Bewegung dominiertes Bild – jeder klassische Pressefotograf hätte es als Ausschuss verworfen. Die Pariser Zeitschrift "Vu" hat es gedruckt. Auf Bilder mit einer solchen Dramatik hat die Zeit damals gewartet.

Der französische Außenminister Aristide Briand bezeichnete Erich Salomon als "König der Indiskreten". Schlägt mit der unauffälligen Pocketkamera nicht auch die Geburtsstunde der Paparazzi?
Die Leica war und ist eine Kamera für kurze Brennweiten. Wenn Sie indiskret sein wollen, müssen Sie
sich dem Objekte Ihrer Begierde nähern, was Interaktion erfordert und vielleicht auch Mut. Typische Paparazzi hingegen arbeiten mit langen Brennweiten und Teleobjektiven – die sind weit weg und stehlen ihre Bilder. Ich denke eher, dass die Fotografen durch die notwendige Nähe Teil der Geschichte werden.
In den 50er-Jahren entsteht so bei Bruce Davidson, Robert Frank oder Will McBride eine neue Form der Subjektivität und Authentizität als Aufgehen in dem Geschehen, das man fotografiert.

Ihre Ausstellung beleuchtet auch die Kriegsfotografie. Man verbindet mit der Leica Antikriegsikonen von Robert Capa, gleichzeitig wurde sie von der deutschen Propaganda während des Zweiten Weltkriegs eingesetzt.
Das Kleinbild wurde verbindlich für die Propagandakompanien des "Dritten Reichs", schon ab 1937 gab es einen entsprechenden Ministererlass von Joseph Goebbels. Die Fotografie des Zweiten Weltkriegs von deutscher Seite ist also ganz wesentlich Kleinbildfotografie. Wir blättern diese Geschichte anhand des Wiener Propagandafotografen Walter Henisch auf, der insofern interessant ist, als er sich als Profi gefühlt hat und schöne, gute Bilder liefern wollte. In seinen Alben reiht sich Lagerfeuerromantik nahtlos an Aufnahmen toter russischer Soldaten im Schnee. Hauptsache, das Bild war stimmig und gut komponiert.

Welche Rolle spielt die Leica nach dem Krieg?
Nach der Zeit der Trümmerfotografie wird die Leica maßgeblich für die sogenannte subjektive und die Autorenfotografie von Otto Steinert, Robert Frank, William Klein oder René Burri, die man als Bilderstürmer bezeichnen könnte. Das ist eine Fotografie, die nicht mehr im Auftrag entsteht, sondern im Selbstauftrag, die deshalb auch radikaler und innovativer sein darf. Das setzt sich in Amerika dann mit Namen wie Lee Friedlander, Garry Winogrand und der New Color Photography um William Eggleston, Mitch Epstein und Joel Meyerowitz fort: alles Fotografen, die mit dieser Kamera hinausgehen ins Leben und ihre Motive dem Alltag entreißen. Und die ihre Aufnahmen erstmals als Kunst begreifen und ausstellen. Die Leica, die so unfassbare scharfe Bilder machen kann, wurde immer auch gegen den Strich genutzt: für unscharfe Bilder, kühne Perspektiven, hart angeschnittene Gesichter. Ein Foto von Oskar
Barnack zeigt den Eisenmarkt in Wetzlar, da rennt vorne ein Junge durch. Das ist selten publiziert, weil viele es für missraten halten – aber für mich ist es Surrealismus pur.