Bucerius Kunst Forum in Hamburg

Historienbilder der Gegenwart

Zwei Autos, die auf einer Landstraße so schnell aneinander vorbeirasen, dass ihre Konturen fast wie UFOs wirken. Ein weißer Sarg, der aus einem Hauseingang gewuchtet wird. Ein schemenhaft erkennbarer Toter unter einem Eisblock. Ein Mann in Wehrmachtsuniform, vor einer Mauer stehend. Gerhard Richters auf Fotovorlagen basierende Gemälde aus den 60er-Jahren zeigen scheinbar banale Gegenstände, Personen und Ereignisse. Ganz überwiegend hat er sie in Grauabstufungen gemalt. Selten, zum Beispiel auf dem von Marcel Duchamp inspirierten Bild „Ema (Akt auf einer Treppe)“ von 1966, verwendet er auch andere Farben. Am Ende des Malprozesses aber ist er jedes Mal in rhythmischen Bewegungen mit einem breiten Bürstenpinsel über die noch feuchte Farbe gegangen. Das Ergebnis: Ein verunklärender Weichzeichnereffekt, der die zeittypischen Details der Fotovorlage weitgehend auflöst und die zwischen 1962 und 1967 entstandenen Bilder formal zu einer Werkgruppe mit hohem Wiedererkennungswert verschmelzen lässt.

„Bilder einer Epoche“ lautet der Titel einer Ausstellung im Hamburger Bucerius Kunst Forum, die nun knapp ein Jahr vor Richters 80. Geburtstag und den großen Retrospektiven in der Berliner Nationalgalerie, der Londoner Tate Modern und dem Pariser Centre Pompidou genau den Werkkomplex zeigt, mit dem Gerhard Richter sich und seine Kunst in Westdeutschland quasi neu erfunden hat. Sie gehören zu seinen ersten „gültigen“ Bildern. Sein in der DDR entstandenes Frühwerk hatte Richter vor seiner Flucht 1961 fast vollständig zerstört.

Richter: "Ich wollte nur meine Ruhe haben"
35 dieser mittlerweile weltberühmten Gemälde sind für die Hamburger Schau aus Museen und Privatsammlungen in Europa und den USA zusammengetragen worden. Ergänzt wird dieser frühe und richtungsweisende Richter-Komplex um den erst 1988 entstandenen Zyklus „18. Oktober 1977“, eine 15-teilige tiefbohrend-malerische Auseinandersetzung mit der RAF und den Ereignissen im sogenannten „Deutschen Herbst“. Die auch als „RAF-Zyklus“ bekannte Werkgruppe stammt aus dem New Yorker Museum of Modern Art.

Kuratiert wird die Schau von Uwe M. Schneede, dem ehemaligen Direktor der Hamburger Kunsthalle. Er wagt die These, dass die verwendeten Vorlagen, nicht wie lange Zeit von Richter selbst behauptet, nur banale Anlässe zum Malen, zur bloß feingeistigen, letzlich aber weltfernen Auseinandersetzungen mit Malgrund, Farben und Methoden des Farbauftrags waren. Ganz im Gegenteil, Richter habe Bilder aus Illustrierten wie „Stern“, „Quick“ oder der „Neuen Illustrierten“, aber auch aus dem eigenen Familienalbum nicht nur als Malanlass sondern als populäre zeithistorische Quellen benutzt.

Von Richter ausgewählt und malerisch bearbeitet, seien so aus Presse- und Privatbildern Historienbilder der Gegenwart entstanden. Warum hat Richter dann so lange jegliche inhaltliche und kontextbezogene Auslegung seiner Malerei abgestritten? „Ach, das war so eine Schutzbehauptung“, sagt er heute. „Es war die Zeit der sozialkritischen Werke, und damit wollte ich nichts zu tun haben und habe deshalb alle direkten Zeitbezüge abgestritten. Ich wollte nur meine Ruhe haben und mich nicht festlegen lassen, sondern meiner Sache nachgehen, rausfinden, was ich will.“

Vitrinen zeigen die Vorlagen für die Bilder
Die Hamburger Schau sieht er als „Arbeitsausstellung“ –   nicht mehr und nicht weniger. Schneede ist es dank akribischer Recherche gelungen, Richters Bilder wieder in ihre ursprünglichen inhaltlichen Kontexte einzuordnen. In Vitrinen präsentiert er aufgeschlagene Magazine und Fotovorlagen aus Richters „Atlas“. Schneede zeigt die von Richter ausgewählten Motive im Zusammenhang ihrer damaligen Veröffentlichung. Die rasenden Autos etwa entstammen einer etwas hausbackenen Anzeige für Sarotti-Schokolade, und im weißen Sarg liegt das Opfer eines Heiratsschwindlers.

Die Ausstellung ist extrem neutral gehalten: indirektes, tageslichtartiges Licht, keine Spots, fast keine Wandtexte. Der Betrachter darf und soll sich ganz auf die Bilder konzentrieren. Für das 2002 eröffnete Bucerius Kunst Forum eine Premiere: Das bisher auf Themenausstellungen von den Etruskern bis zur Klassischen Moderne spezialisierte Haus wendet sich der Gegenwart zu und zeigt mit Richter erstmals einen lebenden Künstler.

Höhepunkt der Schau: der Zyklus „18. Oktober 1977“
Einen ebenso schaurigen wie faszinierenden Höhepunkt der Schau bildet die Präsentation des Zyklus „18. Oktober 1977“ im ersten Obergeschoss. Isoliert von den anderen Bildern, wird hier unter fast aseptisch-klinischen Lichtverhältnissen die Erinnerung an das Trauma der Stammheimer Selbstmorde wachgerufen. Nachdem er sich ab Ende der 1960er ganz seinen Farbfeldern und abstrakten Bildern verschrieben hatte, kehrte Richter hier noch einmal zu seiner frühen Verwischungstechnik zurück. Der große Experimentator und Erneuerer der Malerei wird spätestens mit diesen Bildern auch als Epochen- und Historienmaler wahrgenommen. Dass er das aber auch in den 60er-Jahren schon war, beweist diese außerordentlich sorgfältig recherchierte und ebenso präzise wie behutsam eingerichtete Hamburger Ausstellung. 
 
Bis 15.Mai 2011. Zur Ausstellung ist im Hirmer Verlag ein Katalog erschienen, 216 S., 24,80 Euro