Neues Ausstellungsformat "Situations" in Winterthur

Antlitz der Zeit

Das Fotomuseum Winterthur rüstet sich fürs Digitalzeitalter

Die Fotografin Heather Dewey-Hagborg braucht keine Kamera, um das Porträt eines Menschen zu erstellen. Wenn sie mit der UBahn durch New York fährt, sichert sie wie eine Forensikerin Hinterlassenschaften ihrer Sitznachbarn in einem Plastikbeutel: Haare, Zigarettenstummel oder einen Kaugummi. In einem Labor wird die DNA analysiert und mit ihr Merkmale wie Geschlecht, Augenfarbe, Veranlagung zu Übergewicht oder Struktur des Gesichtes. Ein Computerprogramm erstellt ein Bild des Gesichts, das Dewey-Hagborg anschließend per 3-D-Drucker entwickeln lässt.

Drei dieser maskenartigen Porträts werden jetzt im Fotomuseum Winterthur gezeigt, als sogenannte "Situation". Mit diesem neuen Ausstellungsformat reagiert das Museum auf die "zunehmende Diversifizierung und Ausbreitung des Mediums" im Zuge der Digitalisierung. "Die Fotografie hat in den vergangenen fünf, sechs Jahren gewaltige Sprünge gemacht hin zu einer Verflüssigung", erklärt Co-Direktor Thomas Seelig. "Mit den Situations wollen wir das Museum dynamisieren. Wir wollen kurzfristiger und kleinteiliger agieren und Formate entwickeln, die sowohl digital als auch im Ausstellungsraum existieren können."

Monografische Einzelschauen und thematische Gruppenschauen wird es in Winterthur weiterhin geben. Aber ein Foto ist heute mehr als der gerahmte Abzug an der Wand, und viele Künstler begrüßen diese Entwicklung. Sie wollen mit neuen Formen jenseits des Tafelbildes experimentieren, ein weltweit vernetztes Publikum erreichen. "Selbstverständlich muss ein Museum weiterhin Autorität ausstrahlen. Aber wenn die Museen in ihrem selbst gewählten Ghetto ausharren, werden sie in Zukunft ein Problem haben", meint Seelig.

Vier "Situations" hat das Museum zum Auftakt eingerichtet: Dewey-Hagborgs postfotografische Porträts, ein früher Film von Ryan Trecartin sowie Fotografien von Aneta Grzeszykowska, die in ihrer "Selfie"-Serie Teile ihres Körpers mit Schweinehaut nachformt. Ein Textauszug von Hito Steyerl dient als diskursive Klammer – über die neue Website, Blogs und Foren will das Museum mit Interessierten im Netz interagieren. Auch organisatorisch stellen sich die Schweizer neu auf. Nach dem Abgang von Urs Stahel steht an der Spitze ein vierköpfiges Team: die Co-Direktoren Seelig und Duncan Forbes, die wissenschaftliche Assistentin Daniela Janser und der "Digital-Kurator" Marco De Mutiis.