Ausstellung im Whitney Museum

Wie ich Richard Artschwager lieben lernte

30 Jahre lang war meine Reaktion auf Richard Artschwagers komplex spekulative Kunst einfach „Häh?“. Als spräche seine Arbeit in einer fremden Sprache, die nur ab und an zu mir durchdringt. Ich liebe jedes einzelne seiner quasi fotorealistischen monochromatischen Gemälde auf Celotex-Dämmplatten – seltsame Dinge auf unebenen Oberflächen, mit Kohlflecken, die sich zu Bildern verbinden, um sich dann wieder in abstrakte Muster aufzulösen. Aber wenn ich viele von ihnen sehe, wird der Effekt redundant, und es verschwimmt mir vor den Augen. Ganz ähnlich bestaune ich die großartige Verrücktheit jeder seiner übergroßen geometrischen mit Resopal überzogenen Möbel-Skulpturen, die wie Transportkisten aussehen, jedoch Kunst sind, die als Möbel auftritt. Mehrere davon zusammen sind langweilig.

Aber mein Artschwager-Eis ist gebrochen. Vielleicht, weil fast alle jungen Künstler, die ich kenne, seine Arbeit verehren. Vielleicht hat sich mein Auge schließlich doch an seine Seltsamkeit gewöhnt. In der beeindruckenden Retrospektive im Whitney Museum wirkt Artschwagers „Häh?“ stark und eindrücklich. Ich muss daran denken, was Ed Ruscha einmal sagte: „Gute Kunst sollte die Reaktion ´Häh? - Wow!` hervorrufen, nicht Wow! -Häh?`.“ Ersteres passiert bei Artschwager.

Um zu sehen, was Ruscha meint, nehmen Sie zwei typische Artschwager-Skulpturen. "Journal II" ist eine ausgedehnte Struktur an einer Wand, in einer Ecke angebracht. Aus Sperrholz und Resopal hergestellt, wirkt es wie marmorierte schwarz-weiß gemalte Holzmaserungsmuster, die aus etwas herausexplodieren, was aussieht wie Bodendielen (Artschwager hat Resopal einmal „das großartige hässliche Material, den Horror dieses Zeitalters“ genannt und häufig benutzt.) Das falsche Holz erscheint übertrieben, vergrößert, unecht, visuell nicht fokussiert, bildhaft wie ein Gemälde, aber räumlich wie eine Skulptur. Auch bedrohlich, als wenn es in den privaten Raum des Betrachters eindringen würde – aber dazu zeichentrickhaft, als würde es in einer anderen Dimension existieren, wo Flachheit Dichte bedeutet. In unserer Vorstellung ändert sich seine Ausrichtung ständig, von flach bis 3-D-isometrisch.

Kategorien brechen zusammen
Ganz in der Nähe ist "Description of a Table" ein klassischer minimalistischer Kubus, auch aus Melaminharzlaminat, so eingelegt, dass der Eindruck eines weißen Tischtuchs geschaffen wird, das über einen braunen Holztisch mit dunklem Raum darunter drapiert ist. Dabei hört das ganze Ding nie auf, dreidimensional sein. Oder extrem seltsam zu wirken. Oder leicht wogende, mentale Echos auszulösen. Das ist Artschwagers grundlegendes „Häh?“. Man fragt sich: Was sind diese Dinge? Skulptur? Möbel? Architektonische Ornamente? Illusionen? Witze? Kategorien vermischen sich und brechen zusammen. Langsam verwandeln sich die Werke von einem „Häh?“ in ein „Wow!“. Auch beginnt man zu verstehen, dass schlechte Kunst das Gegenteil bewirkt und schließlich als „Wen interessiert’s?“ endet.

Artschwagers Grisaille-Malereien aus den 60ern, die Gebäude, Pornoszenen, Zugwracks und Raketenschiffen zeigen und durch das Rastern von Fotos entstanden sind, wirken hier spektakulär und extrem vorausahnend. Wie Warhol, Richter und andere erkundet Artschwager die aufgeladenen Räume zwischen Malerei, Fotographie, Illustration, mechanischer Reproduktion, Populärkultur und Banalität. Im Gegensatz zu ihnen malt Artschwager jedoch auf seltsamem Celotex, einem Industriematerial, dessen Oberfläche unregelmäßig ist, mit gewirbelten, leicht hoch stehenden Fasern. Das bedeutet, dass das Auge des Betrachters ständig zu den Oberflächenmustern des Gemäldes zurückkehrt. Es ist wie die Betrachtung einer Zeichnung von Seurat oder eines Bildes von Vuillard. Die Gewebestruktur und die Unregelmäßigkeiten werden genauso wichtig wie das Abgebildete. Toll! Und ich vermute, das ist der Grund, warum Artschwager so wuchtige, hässliche Rahmen benutzt. Er will sie als Teil des gesamten Kunstwerks sehen, nicht nur als dekoratives unwichtiges Beiwerk. Auch das ein Wow!

Ko-Existenz von Ja und Nein
Der unbefriedigendste Teil von Artschwagers Kunst ist für mich das fast vollständige Fehlen von Farbe. Wenn seine Skulpturen Farbe enthalten, dann nur, wenn er ein Material so belässt, wie er es vorgefunden hat. Blaues Resopal bleibt blau, rohes Sperrholz bleibt roh. Aber der Künstler lässt Resopal irgendwie radikal aussehen. Wie in der Guggenheim-Ausstellung „Picasso in Schwarz und Weiß“ oder Whitney’s eigenen Wade Guyton-Werkschau ist es, als wäre ein weiteres formales Element für Artschwager einfach nicht noch zu managen.

Wieso das so sein könnte, lässt sich vielleicht durch den "Yes/No Ball" erklären: einem schlichten schwarzen Bowling-Ball mit dem Wort YES auf der einen und NO auf der anderen Seite. Ein gestalterischer Gimmick? Sicher. Aber vergleichen Sie den Ball mit einem Münzwurf, der immer die eine oder die andere Seite als Ausgang hat, schwarz oder weiß. Hier zeigt sich Artschwagers permanente ästhetische Verfassung: die Ko-Existenz von Ja und Nein, fast, dazwischen, nicht ganz, sowohl als auch und weder noch. Artschwager sagt: „Hat man viele dieser Bälle, erhält man ein Modell für induktives Denken, die einzige Denkweise, die wir haben“. Da ist es wieder, dieses schöne „Häh? - Wow!“

Richard Artschwager!
Whitney Museum für amerikanische Kunst, New York, bis 3. Februar 2013