Unerkannt durch Freundesland

Jenseits des Pamirgebirges

Eine leerstehende Erdgeschosswohnung in der Dresdner Neustadt im Frühling 1989: Gut versteckt vor den Augen der Behörden bauen drei Studenten an einem Katamaran. Mit ihrem Gefährt Marke Eigenbau wollen sie den Aldan befahren, einen Nebenfluss der Lena in Sibirien. Den genauen Verlauf des Stroms kennen sie nicht, denn von der Sowjetunion sind in der DDR keine genauen Landkarten erhältlich. Überhaupt sind Individualreisen ins „Paradies des Kommunismus“ verboten. Nur in Gruppen, von offizieller Seite geführt, darf man die Sowjetunion besuchen.

Wer diese Regelungen missachtet und sich vom Reisekollektiv entfernt, macht sich strafbar. Doch das Fernweh vieler junger DDR-Bürger ist stärker als die Angst vor möglichen Konsequenzen. Trotz aller Widrigkeiten machen sich von den 70er-Jahren bis zum Mauerfall Tausende illegal auf den Weg in die Sowjetunion, die aus Sicht der Reisenden ein faszinierendes, janusköpfiges Wesen ist – einerseits ungeliebte Besatzungsmacht, andererseits Verheißung unermesslicher Weiten und fremder Kulturen.

Weiße Flecken auf der Karte
22 Jahre später erzählt „Unerkannt durch Freundesland“ die Geschichten von Transitreisenden wie Oelker, Wirthwein und Winkler, den drei Studenten mit ihrem selbstgebauten Katamaran. Die Ausstellung ist ein Dauerbrenner: Seit Juni 2010 tourt sie durch Deutschland; zurzeit wird sie in Berlin präsentiert. Ein gleichnamiger Dokumentarfilm der Kuratorin Cornelia Klauß erschien bereits vor fünf Jahren. Zwei Publikationen, „Transit", Reisebuch des Jahres 2010, und „Unerkannt durch Freundesland" 2011 erschienen, komplettieren das Ensemble.

Die Schau eröffnet dem Besucher Einblicke in die Kunst des individuellen Reisens in einer Zeit, als Tramper und Rucksackreisende im Osten stets beargwöhnt wurden und es noch weiße Flecken auf der Karte zu erkunden gab. Eigentlich ist diese Zeit noch gar nicht so lange vorbei, doch schon sind die Transitreisen zu einem weitgehend unbekannten Thema geworden. Kaum noch jemand kennt das bürokratische Schlupfloch, das die Reisenden nutzten: das Transitvisum. Damit Urlauber nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 – die Durchreise durch die CSSR war verboten – trotzdem zu den beliebten Ferienorten am Schwarzen Meer gelangen konnten, wurde ihnen ein 48-Stunden-Visum für die Sowjetunion ausgestellt. Natürlich ausschließlich zur Durchreise.

„Einem Stück Zeit beim Versinken zusehen“
Was die Transitreisenden aber wirklich daraus gemacht haben, welche Orte sie tatsächlich besuchten und was sie erlebten, davon erzählt „Unerkannt durch Freundesland“ lebendig und anschaulich. Eine Fotowand lässt den Besucher mit den Augen der illegalen Touristen auf verfallene Hütten in Swanetien und die Armut der sowjetischen Bevölkerung schauen. Sah so also das Paradies der Arbeiter aus? Auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1989 von einem Verwaltungsgebäude in Jakutien ist der ehemals rote Stern nur noch als zerfleddertes Gerüst sichtbar. Das Gefühl, „einem Stück Zeit beim Versinken zuzusehen“, hatte Martin Claus schon 1984, als er das Baltikum bereiste. In vielen Videointerviews kann man weiteren Zeitzeugen zuhören, die von ihren ganz individuellen Reiseerlebnissen erzählen. Von Touren mit einem selbstgebauten Eissegler auf dem Baikalsee, von Rentier-Schaschlik und durchwachten Nächten am Ufer der Lena oder der Besteigung des Pik Lenin im Pamirgebirge.

Beim Verlassen der Ausstellung betrachtet man die Reisefreiheit und die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der eigenen Gegenwart mit gemischten Gefühlen: Einerseits ist man froh über Annehmlichkeiten wie Google Maps, ist man erleichtert, nicht mehr den damaligen Beschränkungen unterlegen zu sein und stattdessen Urlaub machen zu können, wo immer man möchte. Doch andererseits ist auch ein Stück Abenteuer verloren gegangen, das man so heute nicht mehr erleben kann.

Deutsche Gesellschaft e.V., Berlin, bis 9. Oktober
Stadtspeicher, Jena, 12. Oktober bis 20. November
DDR-Museum, Pforzheim, 13. Dezember 2011 bis zum 22. Januar 2012

Jörg Kuhbandner und Jan Oelker (Hrsg.): "TRANSIT. Illegal durch die Weiten der Sowjetunion", Notschriften-Verlag, 576 Seiten, 29,90 Euro
Cornelia Klauß und Frank Böttcher (Hrsg.): "Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich", Lukas Verlag, 445 Seiten, 24,90 Euro

Unten ein Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Unerkannt durch Freundesland.Verbotene Reisen in das Sowjetreich", 2006, Regie: Cornelia Klauß