"Island + Ghettos" im NGBK

Abends in den Städten

Tulsi, Lila, Swaran und Lashmi treffen sich auf dem Rolla Square von Sharjah, einem der wenigen öffentlichen Plätze in der Hauptstadt des gleichnamigen Emirats am Persischen Golf. Die indischen Gastarbeiterinnen sitzen unter dem Banya, ein Baum, der Heimatgefühle hervorruft und zum Feierabendplausch einlädt. Die Künstlerinnen Silke Wagner und Beate Anspach sind auch nach Sharjah gefahren und haben Interviews mit indischen Immigranten geführt. Ihre vielen Namen — Tulsi, Lila, Swaran, Lashmi — stehen nun auf den Blättern einer Bonsaivariante des Banyas. Er thront auf einem Sockel, als Denkmal für eine Bevölkerungsgruppe, die in den Vereinigten Arabischen Emiraten zwar quantitativ dominiert, aber gesellschaftlich unterrepräsentiert bleibt.
 
Was diese Arbeit recht poetisch, fast harmlos symbolisiert, ist ein soziale Tatsache, mit dem sich ein ganzes Ausstellungsprojekt beschäftigt. „Territoriale Verinselung“ in urbanen Zentren und „soziale Ein- und Ausgrenzung“  im städtischen Raum des 21. Jahrhunderts sind die Themenfelder von „Islands + Ghettos“. Letzten Sommer war diese Gruppenschau im Heidelberger Kunstverein zu sehen. Nun präsentiert die Neue Gesellschaft für Bildenden Kunst (NGBK) und der Kunstraum Kreuzberg in Berlin die Werke der 34 Künstler. Viele der Teilnehmer sind bekannt für ihre engagierte Herangehensweise,  Andreas Siekmann etwa, Peter Fend, Harun Farocki, Atelier Van Lieshout oder das Netzwerk Multiplicity.
 
Mit Sharjah, Berlin, New Orleans, Athen, Münster und Grenzstädten im palästinensischen Siedlungsgebiet oder der Demarkationslinie zwischen Mexiko und den USA rückt eine breit angelegte Ansammlung an Städten ins Blickfeld der künstlerischen Recherche, Kommentierung und Analyse. Dies bedeutet auch Arbeit für den Betrachter, der sich mit einer Fülle von Videos, Fotos, Grafiken und Modellen auseinander zu setzen hat.
 
Interessant wird der Weg durch den Städtewandel vor allem dann, wenn Vergleichsmöglichkeiten und Multiperspektiven ausgelöst werden. So liegt der geografische Schwerpunkt dieser Ausstellung bei zwei Extremen der Stadtentwicklung: Dubai, Inbegriff eines westlichen Kapitalismus im arabischen Gewand, und Caracas, Venezuelas Hauptstadt in der Hand des sozialistischen Staatspräsidenten Hugo Chávez. Ambivalenter geht es kaum, doch beiden Megacitys sind die Kontraste zwischen Wohlstand und Elend gemein. Es wäre schön gewesen, hätte sich der künstlerische Blick allein auf Dubai und Caracas konzentriert, um soziale Effekte des Städtebaus konsequenter und eindeutiger zu beleuchten.
 
Eindrücklich gelingt dies besonders jenen Arbeiten, die nicht bei der dokumentarischen Bestandsaufnahme bleiben oder sich im Entwicklungshilfejargon verlieren, sondern sich durch künstlerische Einschreibungen die Unberechenbarkeit eines medial überästhetisierten Dubais einverleiben oder sich der am Modernismus gescheiterten Megacity Caracas stellen.
 
So wird man direkt am Eingang der schlauchartigen Galerie der NGBK von einer hervorragenden Fotoserie des venezolanischen Künstlers Alexander Apostol begrüßt, die Behausungen in informellen Barrios, den Armenvierteln von Caracas, zeigen. Auf einer Aufnahme ist ein zweistöckiges Haus auf schmalem Fundament zu sehen, die nackten Außenmauern haben keine Fenster. Es erweckt nicht gerade den Eindruck, dass hier ein professioneller Bauherr mit einem Übermaß an Baumaterialien am Werk war. Apostol hat die Fensterfront wegretuschiert, um die städtebauliche Misere seiner Heimat auf den Punkt zu bringen.
 
Links und rechts dieser Serie hängen Fotografien der Londoner Künstlerin Carey Young. Sie selbst ist darauf abgebildet, eingerollt in einem unscheinbaren Anzugstoff und mitten auf einem ansonsten menschenleeren Straßenzug an der Peripherie Dubais. Mit dieser Hommage an Bodyart zielt die Künstlerin auf die Auswirkungen moderner Lebens- und Arbeitswelten. Wie die konsumgeblendete Retortenstadt verloren in der Wüste, bleibt auch der fotografierte Körper inmitten der Betonwüste orientierungslos. 
 
NGBK und Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Oranienstr. 25 und Mariannenplatz 2, bis 26. April.