Emeka Ogboh im Herbstsalon des Gorki-Theaters

Berlin ist zu leise!

Auf der Venedig-Biennale ließ er die deutsche Hymne singen. Jetzt sucht Emeka Ogboh nach dem Sound Berlins

"Auf den Straßen von Lagos hörst du Fragmente aus mehr als 200 nigerianischen Sprachen, angereichert mit einer starken Dosis Pidginenglish, alle auf höchster Lautstärke. Händler preisen ihre Waren an, während sie auf der Suche nach Kundschaft durch die Straßen navigieren – du erkennst sie noch in deiner Wohnung am schrillen Singsang ihrer Stimmen. Dann die Musik – von Afrobeat über Fuji bis zu nigerianischem Hip-Hop –, live vorgetragen oder aus Lautsprechern auf der Straße pulsierend."

Wenn Emeka Ogboh über Städte spricht, dann beschreibt er ihren Klang und nicht ihr Aussehen, vermisst sie nicht nach Vierteln, Architektur, Geschichte, sondern in Dezibel. "In unserer Gegenwart dominiert das Visuelle, dabei entwickelt sich der Hörsinn eines Menschen noch vor dem Gesichtssinn“, sagt der nigerianische Künstler, der zurzeit auf Einladung des DAAD-Künstlerprogramms in der deutschen Hauptstadt lebt. "Der Sound verrät viel über eine Stadt und ihre Bewohner, ihre Lebendigkeit, ihre Gefühle, das soziale Miteinander", so Ogboh. "Von Lagos nach Berlin zu gehen war, wie von 1000 auf 10 Dezibel zu gehen."

Ogboh machte in diesem Frühsommer mit einer Arbeit auf der Venedig-Biennale von sich reden. In den Baracken am Ende des Arsenale-Geländes ertönte die deutsche Nationalhymne aus Lautsprechern, allerdings erhoben sich vor Haydns Streichquartett unbekannte Sprachen: Ogboh hatte die Mitglieder eines Berliner Gospelchors, der aus afrikanischen Migranten besteht, den Hymnentext auf ihre indigenen Sprachen übersetzen und einsingen lassen. Man verstand nichts, aber fühlte doch, wie das mit "Herz und Hand" und "Blüh im Glanze dieses Glückes" – hehre Worte, die man sonst ja eher von nuschelnden Fußballnationalspielern kennt – gemeint sein könnte.

In Berlin zeigt der 1977 geborene Künstler, der an der Universität von Nigeria in Nsukka auf dem Gebiet der bildenden und angewandten Künste studierte, jetzt eine neue Sound installation, die die Situation von Flüchtlingen in der Stadt untersucht. "Radio 0-3-0" kombiniert Nachrichtensendungen, Interviews, Geschichten, Klanglandschaften, Musik, politische Debatten und Berichte. Die Arbeit wird im Rahmen des 2. Berliner Herbstsalons am Maxim Gorki Theater gezeigt, bei dem sich 30 internationale Künstler – darunter Karo Akpokiere, Nevin Aladag, Harun Farocki, Wermke/Leinkauf oder das Zentrum für Politische Schönheit – in einer Ausstellung, Performances und Debatten mit dem Thema Flucht auseinandersetzen.

Ogboh kreuzt in seiner Radiosendung die Perspektiven von "Gast" und "Gastgeber", indem er Reaktionen der Stadt in sein Radiostück einbindet. Und er erweitert den Blick über die Gegenwart hinaus. "Es ist interessant, die aktuellen Dynamiken um den Topos 'Menschen, die nach Deutschland fliehen' vor dem Topos 'Menschen, die aus Deutschland fliehen' zu betrachten, der vor 80 Jahren herrschte."

Die Vergangenheit beschäftigt Ogboh aber auch, um der gegenwärtigen Klangwüste Berlins zu entkommen. "Ich gehe immer noch der Frage nach, was der Sound der Stadt sein könnte. Berlin hat mich bislang kaum zu Tonaufnahmen inspiriert, zumal ich aus Lagos ein ganz anderes Spektrum gewohnt war. Und dass ich ins ruhige, bürgerliche Wilmersdorf gezogen bin, hat sicher nicht geholfen. Diese Situation hat mich aber dazu gebracht, zu erforschen, wie die Stadt in der Vergangenheit klang."

Und immerhin: Die Toncollage "Wochenende", für die Walter Ruttmann im Jahr 1930 allerlei Stadtgeräusche des Berliner Alltags eingfing, entpuppte sich als großartiger Fund.