Kluge, Demand, Viebrock in Venedig

Wer jetzt ins Schwanken kommt – so soll es sein!

Foto: Wolfgang Stahr
Foto: Wolfgang Stahr

Installationsansicht "The Boat is Leaking"

Eingeladen vom Kurator Udo Kittelmann, entfalten Alexander Kluge, Thomas Demand und Anna Viebrock in der Fondazione Prada in Venedig ein atmosphärisch dichtes, beispielloses Ausstellungshybrid

Haben Sie es auch immer bereut, nicht zu Zeiten der historischen Avantgarde gelebt zu haben, das Flanieren Walter Benjamins, die Bühnenabenteuer Erwin Piscators, die revolutionären Film- und Bildexperimente Sergei Eisensteins und Dsiga Wertows verpasst zu haben? Die Ausstellung "The Boat Is Leaking. The Captain Lied" in der Fondazione Prada in Venedig erzeugt einen solchen genreübergreifenden Strudel und ist dabei ganz gegenwärtig. Eingeladen von dem Kurator Udo Kittelmann, entfalten der Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge, der Fotokünstler Thomas Demand und die Bühnenbildnerin Anna Viebrock im Zusammenspiel ein atmosphärisch dichtes, beispielloses Ausstellungshybrid.

Viebrock hat in den Barockpalast ihre Kulissen früherer Theaterstücke (unter anderem für Inszenierungen von Christoph Schlingensief und Christoph Marthaler) eingebaut, ein Hotelfoyer, eine Bar, ein Kino, ein Klassenzimmer, Theaterbühnen, eine Ladenzeile Halberstadts (Kluges Geburtsstadt). Darin laufen die Filme Kluges, hängen die Fotografien Demands.

Zentrales Thema ist der Verlust des menschlichen Maßes, der sich in der Bombardierung Halberstadts während des Zweiten Weltkriegs und in den Nuklearkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima genauso zeigt wie in Börsencrashs und Finanzkrisen, dem Untergang der Titanic oder computergesteuerten Produktionsstätten. Es geht aber auch um eine Bilderserie des Malers Angelo Morbelli, um Wissensdrang und Missverständnisse und nicht zuletzt um den Palazzo selbst: Erbaut von der Adelsfamilie Cornaro, diente er bis in die 60er-Jahre als Wohlfahrtsheim, dann lagerte hier das Archiv der Venedig-Biennale, bis Prada den Bau im Jahr 2011 übernahm.

Wer jetzt ins Schwanken kommt – so soll es sein. Das zwischen Erkenntnis und Irrtum navigierende Schiff ist die Leitmetapher dieser Ausstellung: als Weltentdeckungsgefährt und Steuerungsraum der Macht, aber auch als Wrack, Sinnbild für Hybris, Untergang. Um nur ein Beispiel zu geben, wie man durch die assoziativen Kosmen dieser Schau segeln kann: Am Boden einer Theaterbühne ersetzt ein Fernseher die Souffleuse. Darauf laufen Videos von Terrorgruppen, dann Aufnahmen des Pariser Eiffelturms. Der Pariser Club Bataclan wurde im November 2015 Ziel eines islamistischen Anschlags. Bataclan ist ursprünglich aber der Name einer Operette von Jacques Offenbach, die jetzt ebenfalls auf dem Video zu sehen ist, das der Bühne souffliert ...

Wunderkammern beeindrucken mit dem Kontrast der Exponate. Hier ist es andersherum, ziehen einem die feinen, graduellen Übergänge zwischen fotografiertem Modell, Kulisse und Film den Boden unter den Füßen weg: 50 shades of fake. Ein besonderes Gespür für die Geschichte eint die Künstler, die uns als Tragödie und als Persiflage heimholt, als realer Schrecken und als Simulacrum, hochkulturell und in der Visage Helge Schneiders. Nie ist sie zu fassen, stets sickert etwas durch. Auf der Titanic spielt das Orchester noch, als das Schiff bereits auf dem Meeresgrund liegt.