Hervé Mikaeloff

"Chile befindet sich im Umbruch"

Hervé Mikaeloff, Kurator des Espace Culturel Louis Vuitton, versteht das Ausstellungsmachen als Entdeckungsreise. In Paris hat er jetzt die Gruppenschau „Chile: Behind the scenes“ zusammengestellt. Ein Gespräch über den 11. September 1973, Folterexpertisen und die aufkeimende Kunstszene des Landes

 

 

Was unterscheidet die chilenische Gegenwartskunst von der anderer Länder?

Auf unseren Reisen durch das Land und in den Gesprächen mit Kuratoren und Künstlern haben sich zwei zentrale Themen herauskristallisiert: Das eine ist die geografische Lage. Chile ist 4300 Kilometer lang, aber durchschnittlich nur 180 Kilometer breit, es ist das schmalste und längste Land der Erde. Man hat den Eindruck, als sei man auf einer Insel, eingeklemmt zwischen den Anden und dem Pazifischen Ozean. Dieses Gefühl der Isolation schlägt sich in der Mentalität der Menschen und in der Politik nieder, neuerdings wird es aber auch als Imagefaktor von der Tourismus-Branche verkauft. Das andere ist der 11. September 1973 ...

 

... der Tag, an dem General Augusto Pinochet die Macht übernahm ...

Es gibt so gut wie keinen Künstler, der nicht Verwandte oder Freunde hat, die unter dem Regime gelitten haben oder gar umkamen. Camilo Yánez zeigt in seinem Video das Stadion, in dem am Tag des Putsches Oppositionsanhänger wie in einem Konzentrationslagern zusammengepfercht wurden. Es ist ein hochsymbolischer Ort: 1962 fand dort die Fußball-WM statt, in den 80er-Jahren rief der Papst an gleicher Stelle zur Versöhnung auf.

 

Der Biennale-Teilnehmer Iván Navarro und sein Bruder Mario verknüpfen in ihrer Installation die Geschichte der chilenischen Militärdiktatur mit der Geschichte Frankreichs.

Die Installation führt typisches chilenisches Kunsthandwerk, Schallplatten bekannter Musiker und andere Folklore zusammen mit Zeitungsausschnitten über französische Generäle, die unter Pinochet in Chile und anderen südamerikanischen Ländern Zuflucht fanden. Das waren Männer, die im Algerien-Krieg oder in Indochina gefoltert hatten, und die jetzt als „Experten“ geladen wurden. Man bat sie um Folterexpertisen, so wie man früher Kunstexpertisen eingeholt hatte, importierte etwas „authentisch Französisches“, als würde man Nippes importieren.

 

Kunst und Architektur in anderen südamerikanischen Ländern wie Argentinien oder Brasilien waren immer auch stark verknüpft mit europäischen Entwicklungen. Gilt das auch für Chile?

Der Austausch zwischen Chile und Frankreich war traditionell eher intellektueller Art, fand statt in Bereichen der Philosophie und Literatur. Roland Barthes und Pablo Neruda zum Beispiel waren gut befreundet. Was die Kunst angeht: Roberto Matta war sicherlich stark vom Surrealismus beeinflusst, und sein Sohn Gordon Matta-Clark verbrachte in Paris dann viel Zeit mit den Situationisten um Guy Debord. Mit dem Putsch aber endete jeder interkulturelle Dialog. Es ging ein ganzes Land ins Exil, und wer blieb, lebte in Isolation.

 

Wie ist die Situation heute?

Chile ist ein Land, das sich im Umbruch befindet. 1990 wurde die Demokratie wieder hergestellt, aber das Land steht in vielerlei Hinsicht noch ganz am Anfang – auch, was die Kunst angeht. Es gibt mittlerweile ein Museum für moderne Kunst, aber nur fünf oder vielleicht sechs größere Galerien. Die wenigen Sammler interessieren sich für die europäische Avantgarde, aber nicht für die Zeitgenossen aus ihrem eigenen Land.

 

Und die wenigen bekannteren Künstler wie Alfredo Jaar leben seit Jahrzehnten im Ausland.

Das stimmt, aber es ändert sich. Ein Großteil der von uns gezeigten Künstler lebt in Chile, sie haben dort studiert, erhalten jetzt auch öffentliche Förderungen und Stipendien. Man kann vielleicht nicht von einer Szene sprechen, aber das liegt auch daran, dass chilenische Künstler in ihren Selbstbild eher bescheiden sind. Sie sehen es als ihre Aufgabe, die Identität ihres Landes zu reflektieren – und die Gesellschaft dankt es ihnen mit zunehmender Anerkennung.
 

 

„Chile: Behind the scenes“ im Espace Culturel Louis Vuitton. Mehr unter www.louisvuitton.com/espaceculturel