"Angezogen" von Barbara Vinken

Das Geheimnis der Mode

Was könnte man über Mode noch wissen wollen, jetzt, da ja offenbar alles geht, sämtliche Dekaden durchzitiert sind und sogar das Magazin „Harper’s Bazaar“ empfiehlt, H&M mit Yves Saint Laurent zu mixen? Wo Hosenbeine weit, eng, kurz oder lang sind und Comebacks so häufig, dass man nicht mehr überblickt, welcher Trend je verschwunden war?

„Angezogen“, das neue Buch der Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken, verspricht im Untertitel, das „Geheimnis der Mode“ zu enthüllen. Geht das, obwohl sie doch kein Geheimnis mehr zu haben scheint, weil ihr Bewertungssystem, das in von out scheidet, zusammengebrochen ist? Es geht, die scharfsinnige und gebildete Autorin erkennt dennoch ein Prinzip.

Ihre Analyse des Modewandels hat die Münchnerin in einem angenehm teilnehmenden Ton aufgeschrieben – als säße sie in einem Café am Washington Square und beschriebe, was sie sieht: Männer in Anzügen und Frauen mit unendlich langen Beinen. Zugleich geht sie über den Status quo weit hinaus, wenn nötig, bis in die Renaissance zurück. Dort spürt sie beispielsweise die Vorlagen für diese „neuen Beine der Frauen“ auf, die verlängert durch entsprechendes Schuhwerk und hautnah bekleidet sind, also jene aktuelle Silhouette, die es in der Frauenmode so noch nie zuvor gab. Sie findet das Vorbild beim bestrumpften Mann des 18. Jahrhunderts, Stichwort Strumpfhosenfilm.

Auch wenn Vinken die ästhetische Welt gründlich zerlegt, seziert sie nicht, sie spießt nicht auf. Jede Form des Ausdruckswillens ist ihr legitim, selbst Schulterpolster oder durch Gürtung betonte Geschlechtsteile gibt die Literatur-Professorin mit Schwerpunkt Genderforschung nicht der Lächerlichkeit preis. Es sind dabei gerade ihre differenzierenden Geschlechterstudien, die als Leitfaden das Buch tragen und zeigen, was an Mode immer noch so brisant ist.
Während alle Welt zum Beispiel annimmt, ein Konzept wie Unisex sei fortschrittlich und hebe den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Mode auf, stellt sie unbeeindruckt nichts anderes fest, als dass man sich nun eben unisono männlich kleiden könne, mehr aber auch nicht. Wer diesen Gedanken weiterspinnt, merkt: In der Mode ist noch längst nicht alles gemacht worden, auch wenn es manchmal so scheint. Es gibt noch mehr Tabus, als man denkt. (Fast schon genüsslich streut Barbara Vinken Informationen ein wie die, dass Hermann Göring nicht nur bemalte Fingernägel hatte. Nein, auch seine Fußnägel waren lackiert.)

Ihre klugen Perspektivwechsel laufen dabei zumeist auf die Erkenntnis hinaus, dass unsere ästhetischen Vorlieben unseren erotischen Vorstellungen entsprechen. Nicht, ihnen nachzugeben, sondern sie zu durchkreuzen, wie einst Rei Kawakubo mit Comme des Garçons, hat etwas Aufständisches.

Es gibt nur wenige Autoren, bei denen auf „französische Revolution“ im nächsten Satz „Fetischmode“ folgt. Die Lektüre von Barbara Vinkens „Angezogen“ beweist unterhaltsam und mit Eleganz: Um Mode zu verstehen, reicht es nicht, etwas von Mode zu verstehen.

Barbara Vinken: "Angezogen - Das Geheimnis der Mode". Klett-Cotta, 255 Seiten, 19,95 Euro

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 10/2013. Sie können das Heft hier bestellen.