Reportage

Das Lied der Straße

Einmal im Jahr verwandelt sich die Europastadt Görlitz in eine Bühne für Gaukler, Artisten und Schauspieler. Ein Rundgang über das Straßentheaterfestival "Via Thea"

Görlitz an einem Sommertag. Am Himmel über der östlichsten Stadt Deutschlands stapeln sich Cumuluswolken zu bedrohlichen Türmen. Ein Geruch von Gewitter liegt in der Luft – von nassem Staub auf benetztem Asphalt. Noch harren die Passanten trotzig in den Straßen­cafés am Untermarkt aus, und vor dem Gerhart-Hauptmann-Theater am Demianiplatz dreht ein Kinderballett seine Pirouetten unbeeindruckt in den Abend hinein. Es ist das erste Wochenende im Juli. Im größten Flächen­denkmal Deutschlands trotzen die Bewohner dem Regen – dem Aufzug des Windes und der zuweilen trockenen Luft, die aus den letzten Altbauruinen herüberweht. Nur wer genau hinschaut, erahnt schon das Schauspiel – das kleine Welttheater am Ufer der Neiße, das hier in wenigen Momenten zur Aufführung kommen wird.

 

"Gleich geht es los!" Ein verschwitzter Junge mit roten Haaren tanzt aufgeregt mit einem im Wind fliegenden Zeitungspapier. "Es bleibt nur die Straße" verkündet eine Überschrift in dicken Lettern. Die Straße – wo wüsste man um die Kraft dieses Ortes besser als in Görlitz, der historischen Kreisstadt an der Lausitzer Neiße. Bereits im 12. Jahrhundert verlief über deren Brücken und Plätze die alte Fernstraße "Via Regia" bis hinüber ins schlesische Breslau und in umgekehrter Richtung zurück an den Rhein. Noch heute erzählen die prächtigen Fassaden von dem Reichtum, den man damals am Rande der alten Königsstraße erlangen konnte.

Vielleicht ist sie immer schon ein Ort für Weltenstücke gewesen. Mal ereigneten sich hier große Dramen, mal unbedeutende Liebeleien. Mal diente das Pflaster der Pilgerfahrt, mal der Prozession oder dem Wanderschauspiel. Einer war hier dem anderen Mime. Nur ins Bewusstsein drang das die meiste Zeit über nicht. Unbekannt blieben die Titel der Stücke, fremd die Dramaturgen und Regisseure. Nur einmal
im Jahr – in der Regel im Juli oder im frühen August – lüftet man in Görlitz den großen Vorhang. Dann verwandelt sich die Straße vor den Augen Tausender Schaulustiger zu einer gewaltigen Bühne, und die alte Europastadt an der Grenze zu Polen wird über drei Tage hinweg zum Austragungsort für das drittgrößte Straßentheaterfestival Deutschlands.

 

Der Name des Festivals ist der alten Heeres- und Handelsstraße entlehnt: "Via Thea". Ein Theaterereignis, das bereits seit 23 Jahren international einen guten Ruf genießt. Straßentheaterfestivals gibt es in Deutschland eine ganze Menge, von Berlin über Detmold bis ins hessische Heppenheim. Kaum
eines aber zieht derart viele Menschen in seinen Bann wie die "Via Thea" in Görlitz. Denn, so meint Klaus Arauner, der als Generalintendant des Görlitzer Gerhart-Hauptmann-Theaters Mit­veranstalter des Festivals ist: "An diesem Wochenende feiert sich die Europastadt Görlitz immer auch selbst."

Es feiern sich Fassaden aus Barock, Renaissance und Gründerzeit; es rühmt sich das Ornament und das Dekor. Fast ist es, als fände das einzigartige Panorama während dieser Tage ganz zu sich selbst. Görlitz, ein Theatrum mundi. Hier braucht es keine Requisiten und Bühnenbilder. Die Stadt selbst wird sich Kulisse. Und neben den 23 Profi-Gruppen aus elf Ländern, die allein bei der letzten Ausgabe der "Via Thea" mit dabei waren, wird auch jeder Passant für einige Momente Schauspieler und Mit-Akteur.

 

"Jetzt kommen sie!", ruft etwa der rothaarige Kleine und zeigt mit dem Finger auf weißkostümierte Stelzen­gänger, die mit angenähten Vogelflügeln wie die unheimlichen Fabelwesen in den Bilderwelten von Hieronymus Bosch erscheinen. Ein paar Gäste stellen eilig ihre mitgebrachten Klappstühle aufs Pflaster, und die große Uhr am "Dicken Turm" schlägt mit Inbrunst die volle Stunde. An diesem Abend, so will es scheinen, ist sie nicht mehr Zeitansage; sie ist ein donnernder Theatergong. Alles hat eben seinen Platz in dieser geheimnisvollen Choreografie.

 

Bühne werden – es scheint, als hätte Görlitz mit dieser großen Aufgabe seine wahre Bestimmung gefunden. Wie oft schon haben in der Vergangenheit namhafte Filmregisseure aus Berlin oder Hollywood die kleine Stadt in eine Traumkulisse verwandelt. 2008 etwa drehte Quentin Tarantino auf dem historischen Untermarkt Szenen zu seinen "Inglourious Basterds", und 2012 ließ Wes Anderson im leerstehenden Jugendstil-Warenhaus von Carl Schmanns sein "Grand Budapest Hotel" Wirklichkeit werden. Im Vergleich zu den ganz großen Settings nehmen sich die provisorischen Bühnen auf der "Via Thea" fast fragil und unscheinbar aus. Manchmal stehen die Besucher vor goldenen Vorhangstoffen, manchmal auch nur vor der selbst mitgebrachten Fantasie. Vieles auf der "Via Thea" ist vergänglich, so wie die ungezählten Seifenblasen, die während der Festivalabende über die Köpfe der Zuschauer hinweggepustet werden. Es gibt Theatergruppen, die ihre Stücke vor teuren Bühnenbauten inszenieren. Viele andere spielen "auf Hut". Es gibt Modern Clowning oder Antigone in Kurzversion; Installationen, Walk Acts oder halsbrecherische Artistik. Unten am Fluss träumt eine holländische Freilichttruppe vom Sommerglück im Caravan, während um dieselbe Zeit oben am Rathausturm ein Sarg auf Rädern um die Ecke flitzt.

Mit jedem Moment wird es surrealer, mit jeder Vorstellung ein Stück mehr fantastisch. Ob dies hier noch das Leben ist oder nicht längst schon ein Gesamtkunstwerk? Auf der "Via Thea" bleibt das über drei Tage und Nächte hinweg ein gut gehütetes Geheimnis.