Werner Nekes

Der Zauber der Bilder

Foto: Albrecht Fuchs
Foto: Albrecht Fuchs
Werner Nekes in seiner Sammlung in Mülheim

Helge Schneider und Christoph Schlingensief waren seine Schüler. In Mülheim hütet der Experimentalfilmer Werner Nekes einen Schatz: Ein Archiv zu 600 Jahren medialer Frühgeschichte

Es gibt viele Gründe, im Ruhrgebiet zu leben. Doch die Frage der Motivation stellt sich Werner Nekes schon lange nicht mehr: "Mit dem ganzen Zeugs hier umziehen?" Rund 40 000 Objekte zur Vorgeschichte des Kinos und zu Phänomenen der optischen Wahrnehmung sind hinter der Tür seines unscheinbaren Mülheimer Stadthauses versteckt. Neben den berühmten Seh-Maschinen vergangener Jahrhunderte umfasst seine Kollektion kostbare Bücher mit frühen Darstellungen optischer Phänomene, die bis in die Renaissance zurückreichen, dazu Gemälde, Zeichnungen, Artefakte aus den verschiedensten Kulturen. Er kennt jedes einzelne Stück, weiß, wo es steht, auch wenn er inzwischen manchmal froh ist, wenn es ein Besucher für ihn aus einem entlegenen Regal zieht.

Nach einer schweren Erkrankung ist er ins Leben zurückgekehrt. Neun Monate lag er in einem Essener Krankenhaus, sieben Wochen davon im Koma. Als er aufwachte, glaubte er, zehn Minuten seien vergangen. Für einen Mann, der sich in seiner Kunst ebenso wie als Sammler mit der Sinnestäuschung beschäftigt, ist das erst einmal ein interessantes Phänomen. "Einen Film, der vor meinem Auge ablief", sagt er fast bedauernd, "hatte ich dabei nicht."

Hinter dem samtbezogenen Präsentationstisch residiert Nekes wie ein geheimnisvoller Schausteller - eine Inszenierung, die zu dem niederländischen Genregemälde passt, das er sich in Sichtweite aufgehängt hat. Es ist eine Neuerwerbung vom vergangenen Jahr aus dem Kölner Auktionshaus Lempertz, eine Marktszene mit Wanderbühne, ausgeführt um 1680 von einem Rotterdamer Meister, die aus dem Nachlass des Kölner Theaterwissenschaftlers Carl Niessen stammt. Nekes aber begeistert sich vor allem für ein Detail: "Sieh' mal, da unten links schauen Leute in so einen Guckkasten."

Die menschliche Schaulust war schon für den Filmemacher Nekes, der in den 70er- und 80er-Jahren weltweit auf Festivals präsent war, ein zentrales Thema. Dass er heute als Sammler bekannter ist, stört ihn "kein bisschen." Wie selbstverständlich investierte er die Erlöse seiner Filme in den Erwerb von Objekten, die er dann wieder in seinen Essayfilmen vorstellte. Selbst vermeintliche Nebenschauplätze der Sammlung füllen ganze Ausstellungen, zuletzt 2011 die von Werner Hofmann kuratierte Karikaturen-Schau "Ich traue meinen Augen nicht!" im österreichischen Krems.

Wer Nekes besucht, wird auch die eigene Scharfsichtigkeit immer wieder auf die Probe stellen lassen müssen. "Was hat mich wohl hieran interessiert?", fragt Nekes, während er seinem Besucher eine gerahmte Rembrandt-Radierung vorlegt. Vielleicht die theatrale Inszenierung eines Liebesaktes im Himmelbett? "Nicht schlecht", lobt er - aber das Eigentliche hätte ich doch übersehen: "Die Frau hat drei Arme."

Es ist vor allem ein segensreiches Handicap des Menschen, das es Nekes angetan hat: Die Trägheit des Auges. Sie allein ermöglicht den Bewegtbildzauber, der die Einzelbilder des Filmstreifens zu einem Ganzen verschmelzen lässt. Aber wenn unser Sehorgan wirklich so träge ist, wie es die Wissenschaft lehrt, warum ist es dann so neugierig?

Als Werner Nekes Mitte der 60er-Jahre begann, Filme zu machen, befand sich das Kino technisch gesehen im Vollbesitz seiner Kräfte. Was er wiederentdeckte, waren die Wunder dahinter. All die kleinen Sensationen, die heute in einem gewaltigen Illusionismus verschwinden, aber in ihren Frühformen umso bezaubernder sichtbar werden.

Auf den Spuren des Films

Was Nekes suchte, war der "Der Ursprung des filmischen Lebens", um es angelehnt an Gustave Courbets berühmtes Gemälde zu sagen, das Nekes in seinem bislang letzten Langfilm "Der Tag des Malers" (1997) nachgestellt hatte. Die Spurensuche des Autors galt der Schnittstelle zwischen den Bildern: "Dann gelange ich zu der Antwort, dass Film der Unterschied zwischen zwei Bildern ist", heißt es in seiner Kinefeldtheorie. "Also die Arbeit, die das Hirn zu leisten hat, um die Verschmelzung zweier Bilder zu produzieren."

Dieses technische Interesse an der Funktionsweise des Films führte Nekes wie auch viele andere Protagonisten des strukturellen Films zu einer Aufarbeitung des frühen Kinos, auch der Filmwissenschaft gaben sie einen entscheidenden Impuls. In den 70er-Jahren befand sich Nekes dabei auf der Höhe der internationalen Avantgarde; der Regisseur Norman McLaren gehörte zu seinen Bewunderern. Und auch den jungen Düsseldorfer Wim Wenders dürfte er 1968 mit den langen Einstellungen seines Films "Kelek" beeinflusst haben. Doch der Austausch war durchaus wechselseitig: "Als ich Wenders in seiner Münchner Kommune besuchte, hatte er die Hefte von Ed Ruscha. Die habe ich mir dann besorgt. Insofern habe ich auch etwas von ihm gelernt."

Nekes' bekannteste Filmschüler waren Helge Schneider und Christoph Schlingensief. "Schlingensief war zehn Jahre hier Assistent und hat alles Mögliche gelernt", erinnert sich Nekes. "Nach seinen ersten Amateurfilmen, die er als Schüler gedreht hatte, habe ich ihn nach Offenbach an die Filmschule mitgenommen. In München war er von der Filmhochschule nicht angenommen worden. Da ist er nach Mülheim gezogen, wo er von 1982 bis 1992 aktiv war."

Selbst wer glaubt, das Kino zu kennen, lernt bei Nekes dazu. Wie auch der ständig etwas Neues entdeckt, was ihn interessiert. Von Sammlungsstücken kann er sich kaum trennen: "Soll ich das vielleicht verkaufen?", fragt er und reicht einen alten Folianten herüber. "Das ist das erste Mathematikbuch aus England, so eines hat gerade bei einer Auktion 100 000 Euro erzielt."

Warum also nicht versteigern? Mathematik gehört ja nicht zu den Schwerpunkten der Sammlung. Aber Nekes verweist auf ein eingeklebtes Klappbild am Ende des Bandes. "Das ist auch eines der allerersten Pop-up-Bücher." So gesehen ein Vorbote der Animation.

Beinahe hätte es in Mülheim ein Museum für die Nekes-Sammlung in einem Wasserturm gegeben. Doch dann starb der Direktor des Wasserwerks, der bereits den Kaufpreis besorgt hatte. Das Geld lag bei der Stadt - und die Oberbürgermeisterin und der Kulturdezernent entschieden sich dann für eine andere Verwendung, sagt Nekes: "Sie kauften billigere Objekte und Remakes von einem anderen Händler." 

Dabei wäre es an der Zeit, den Schatz zu bergen. Gefährlich nah hinter Nekes' Haus fließt die Ruhr in ihrem Bett. Hat er keine Angst vor Hochwasser? "Davor habe ich jedes Jahr Angst. Als das Wasser zuletzt so hoch war, habe ich erst das Wassermuseum hier angerufen, die wussten gar nichts und verwiesen mich auf die Feuerwehr. Dort sagte man mir, sie haben nur 120 Sandsäcke für ganz Mülheim, die hätten sie schon mal vorsorglich ums Rathaus gelegt." Das vielleicht schönste aller Filmmuseen sollte gegründet werden, bevor es davonschwimmt.