Hanne Darboven

Die Frau mit dem Plan

Ob sie Fantasy-Literatur gelesen hat? Oder Jorge Luis Borges? Wahrscheinlich nicht. Aber sie konnte einem vorkommen wie eine Figur aus der Welt der magischen Fantastik. Schmal war sie, trug einen androgynen Kurzhaarschnitt und bei öffentlichen Auftritten immer dunkle Herren­anzüge. Jeden Morgen um vier Uhr, so wusste man, setzte sich Hanne Darboven in ihrem Haus im Hamburg-Harburg an den Schreibtisch und schrieb geheimnisvolle Buchstaben und Zahlenkolonnen auf’s Papier, bis zum zwölften Schlag der Uhr. Quersummen aus den Kalenderdaten waren die Grundlage ihres im Laufe der Jahre immer ausgefeilter werdenden Schreibsystems. Mit ihm verwandelte sie gelebte Zeit in Schrift, über vierzig Jahre lang, und ihre Zahlen, akkurat gerahmt, formierten sich auf den Wänden der Museen der Welt zu eindrucksvollen Serien.

Sie hatte früh zu ihrem System gefunden. Nach kurzem Studium in Hamburg war die Kaufmannstochter 1966 nach New York gegangen und lernte dort Konzeptkunst und Minimalismus kennen, Sol LeWitt wurde ihr Mentor. Die Idee einer konkreten Kunst, die auf nichts als auf sich selbst verweist und den Akt des Festhaltens lag in der Luft: 1966 malte On Kawara sein erstes „Date Painting“. Hanne Darboven wurde mit ihren datumsbasierten „Konstruktionen“ aus Buchstaben und Zahlen zu einer der bekanntesten Protagonistinnen der Konzeptkunst – und die erfolgreichste Frau dieser Szene. Sie saß, Zigarette immer in der Hand, neben Harald Szeemann bei der legendären Documenta 5 von 1972, war auch bei den Ausgaben 6 und 7 dabei und hatte 2002 auf der Documenta 11 wieder einen großen Auftritt, als sie die gesamte Rotunde des Fridericianums mit ihrem Werk füllte, das inzwischen auch als Partitur für Kompositionen diente.
 
„Hommage à Picasso“ hieß ihre letzte große Ausstellung 2006 in der Deutschen Guggenheim in Berlin: Ihre scheinbar abstrakten Aufschreibsysteme band sie immer wieder an Persönlichkeiten der Geschichte an. Spröde fand man ihre Kunst oft, und unverständlich – dabei war sie ganz einfach, fand die Künstlerin: „Denn eins und eins ist zwei – und das kann meines Erachtens nun wirklich jeder begreifen.“

Und wäre sie wirklich eine Figur von Borges gewesen, dann hätte Hanne Darboven auf ihren Blättern die Zeit nicht nur festgehalten, sie hätte sie gemacht: vielleicht für unsere Welt, vielleicht für eine Parallelwelt, deren Uhren jetzt stillstehen müssen. Am 9. März ist Hanne Darboven in Rönneburg gestorben. Sie wurde 67 Jahre alt.