Eigene Wege durch die Moderne: Das Kunsthaus Zürich setzt mit "Hot Spots" Rio de Janeiro, Mailand, Turin und Los Angeles auf dei Weltkarte der Avantgarden

 Ein Blick zurück auf eine herausragende Gruppenschau in Zürich und Ausstellungen in Graz, Berlin und London

In den Straßen von Turin tragen die meisten Herren 1968 Anzüge und haben ordentlich ausrasierte Nacken. Michelangelo Pistoletto nicht. Sein Haupthaar wuchert wie das Fell an den Aufschlägen seiner hippiesken Jacke, und seine Kunstaktion, die der Fotograf und Filmemacher Ugo Nespolo in diesem Jahr in einem zittrigen Schwarz-Weiß-Film dokumentiert hat, sieht schwer nach Anarchie aus. Pistoletto, Wortführer der gerade geborenen italienischen Arte-povera-Bewegung, rollt einen riesigen Ball aus Zeitungspapier durch die Straßen; eine in die Freiheit entlassene Skulptur, die mal hupenden Autofahrern den Weg blockiert, mal von kichernden Passanten durch die Luft geworfen oder in waghalsigen Balanceakten bestiegen wird.
Der Monitor, auf dem der Film von Michelangelo Pistolettos Performance läuft, hängt in der Ausstellung „Hot Spots“ im Kunsthaus Zürich etwas versteckt in einer Ecke. Aber er liefert eine so schöne wie treffende Metapher für die Kunst, die dort versammelt ist. Es ist Kunst, die ihre feste Basis in der Abstraktion hat und von dort aus in den Raum aufbricht; Kunst, die die alten Grenzen von
Tafelbild und Skulptur noch kennt, aber gleichzeitig schon zu vibrieren scheint vor den Umwälzungen, die kommen werden.
1956 setzt die Ausstellung ein: In New York ist gerade Jackson Pollock beerdigt worden, in Paris läutet Yves Klein seine „Blaue Epoche“ ein. Aber, so die These der Ausstellung: Damals schon war die Kunstszene globalisiert, und in der sogenannten Peripherie fand man eigene, alles andere als epigonale Wege durch die Moderne. Rio de Janeiro, Mailand, Turin und Los Angeles sind die „Hot Spots“, die das Züricher Kunsthaus vorstellt; die Schau ist die gelungene Synthese dreier Einzelausstellungen des Moderna Museet Stockholm aus dem vergangenen Jahr.
Die Auswahl der Städte als Zentren der Avantgarde wird sofort evident. In Rio de Janeiro hatte man Oscar Niemeyer beauftragt, die neue Hauptstadt Brasilia zu bauen – Marcel Gautherots zeitgenössische Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen die atemberaubenden Konstruktionen noch ganz ungebrochen als Beton gewordene Utopien. Auch der Züricher Konkretist Max Bill wurde in Brasilien verehrt. Doch die sogenannten Neokonkretis­ten, die sich ab Mitte der 50er-Jahre im neu gebauten Museum für Moderne Kunst in Rio de Janeiro breitmachten, adaptierten seine strengen, geometrischen Formen nur, um sie umstandslos zum Tanzen zu bringen.
Hélio Oiticica etwa brachte in seinen frühen „Metaschemen“ die Rechtecke auf der Leinwand in Bewegung, später baumelten sie gleich ganz an Fäden aufgehängt im Raum, als Teil komplexer, leuchtend bunter Raumreliefs. Und Lygia Clark kombinierte Einzelteile aus Metall zu sogenannten „Bichos“, Tieren, die man falten und verstellen konnte, um so die Geometrie zum lebendigen Spiel zu machen. Schon im Frühwerk dieser Szene, deren Arbeit in den 70er-Jahren in Installationen und Performances explodieren sollte, ist eine große Sensualität zu spüren, als charmanter Unterton zur Abstraktion, die so gar nicht dogmatisch wirkt.
In dieser Hinsicht harmoniert Rio de Janeiro gut mit den italienischen Kunstmetropolen Mailand und Turin. Hier hatte Lucio Fontana mit seinen geschlitzten und ausgeschnittenen Leinwänden und teilweise beweglichen Skulpturen ein singuläres Werk geschaffen, auf das die Jüngeren aufbauen konnten, die der Arte povera zugerechnet werden: allen voran Piero Manzoni, der sich mit seinen zerknitterten weißen Leinwänden erst ganz ernsthaft auf die Suche nach dem Nullpunkt der Bedeutung machte und dann ironisch seine Exkremente einschweißte und als „Merda d’artis­ta“ verkaufte.
In Los Angeles dagegen hätte man sich so etwas wohl nicht auf die
Regale der verglasten Mus­terhäuser mit Pool gestellt. Natürlich, George Herms bas­telte Figuren aus dem Müll der wuchernden Metropole, aber die meisten anderen feierten lieber ihre Oberflächen, die durch die neuen Materialien der Surfer wie der Weltraumindustrie ein ganz neues
Finish bekamen. Billy Al Bengston schuf psychedelische Muster
in Spraylack auf Masonit, und John McCracken häufte Farbschicht auf Farbschicht, bis das Pink auf seinen Skulpturen undurchdringlich wurde wie die Plas­tikwelten von Disneyland. Ed Ruscha fotografierte den Sunset Boulevard als endloses Band, und James Turrell begann seine Lichtexperimente: wieder neue Wege, in den Raum zu gehen oder die Architektur der wuchernden Stadt zu verarbeiten.
Bei ihrem Abriss der Avantgarden mischt die „Hot Spots“-Schau überzeugend bekannte Namen mit selten Gezeigtem und stellt die lokalen Szenen nebeneinander, ohne Differenzen einzuebnen. Spannend ist dabei nicht zuletzt, wie unterschiedlich die jeweiligen Werke altern: Die Kunst aus Rio de Janeiro und Italien hat eine ganz andere Patina als die Hochglanzprodukte aus Los Angeles. Aber egal ob alteuropäisch vergilbt oder für die Ewigkeit lackiert: Die Zukunft von gestern ist ein Paradox, dessen Melancholie man in dieser Ausstellung wunderbar genießen kann. Elke Buhr

Kunsthaus Zürich, 13. Februar bis 3. Mai 2009. Zur Ausstellung erschien ein Katalog bei Steidl. 319 Seiten, circa 33 Euro