Künstler Ahmet Öğüt über sein Flüchtlingsprojekt "Silent University"

Gegen das erzwungene Schweigen

Gerade machte sie beim Mülheimer Impulse-Festival Station: Die "Silent University" des kurdischen  Künstlers Ahmet Öğüt vermittelt Wissen von Flüchtlingen mit akademischen Hintergrund

Ahmet Öğüt, was ist und was meint die "Silent University"?
Die "Silent University" ist eine autonome Plattform zum Wissensaustausch von und für Menschen mit Flüchtlingsstatus und auf Asylsuche sowie für Interessierte. Angefangen hat alles 2012. Als ich damals in London recherchierte, fiel mir das Schicksal von Flüchtlingen und Asylbewerbern mit akademischem Hintergrund auf, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in Großbritannien nicht einsetzen und sich mit anderen austauschen konnten. Ihre Uniabschlüsse wurden nicht anerkannt. Das "Schweigen" im Worttitel der Universität meint diese Wartezeit, während der über ihren legalen und den Bildungsstatus entschieden wird. In dieser Zeit leben sie in einer Art erzwungenem Schweigen. Wir wollten diese Passivität beenden und das zum Schweigen gebrachte Wissen sofort aktivieren.

Ist die Universität selbst "silent", also stumm?
Nein, an dieser Universität wird natürlich gesprochen. Aber wir wollen auch nicht Schweigen durch Schreien ersetzen. Es geht langfristig darum, eine Wissensplattform aufzubauen. Die "Silent University" ist auch nicht eine Universität für Flüchtlinge und Asylbewerber, sondern von ihnen. Sie werden zu Dozenten und Beratern. Es ist nicht irgendein Projekt von Marginalisierten, sondern ein Zusammenschluss von hochqualifizierten, kreativen und gut ausgebildeten Menschen. Die wollen nicht individuelle Wege aus der Misere finden, sondern lernen, wie man kollektiv agiert und progressive Wege jenseits der Mainstream-Bildung findet.

Und wie sieht das praktisch aus?
Diese Universität sieht an jedem Ort anders aus. Die Dozenten entwickeln je nach akademischem oder beruflichem Hintergrund oder ihren aktuellen Interessen Seminarangebote. Manchmal werden auch internationale Gäste zu öffentlichen Vorträgen und Gesprächen eingeladen. Interessierte können sich als Studierende auf thesilentuniversity.org einschreiben.

Die "Silent University" begann 2012 zusammen mit der Delfina Foundation und der Tate in London? Ist sie nun Kunst oder Sozialpädagogik?
Ein Journalist damals in London war irritiert, weil er nicht wusste, in welcher Sparte seiner Zeitung er es unterbringen sollte: Kunst oder Erziehung. Die "Silent University" stellt diese Unterscheidung in Frage. Schon allein, weil es sich selbst von einem Kunst- zu einem Bildungsprojekt entwickelt. Was mich daran interessiert ist, dass es große Organisationen aus Kunst und Wissenschaft dazu zwingt, zu kollaborieren und sich mit diesen Fragen radikaler auseinanderzusetzen. Sie funktioniert also parasitär.

Was würden Sie dem Vorwurf der Instrumentalisierung für eine politische Anklage gegen eine menschenunwürdige Flüchtlingspolitik entgegnen?
Die beteiligten Flüchtlinge und Asylbewerber bestimmen in der "Silent University" von Anfang an mit. Und Institutionen, die nur aus Gründen des symbolischen oder politischen Protests mitmachen wollen, müssen meist schnell wieder aussteigen, wenn sie merken, dass es um ein langfristiges Engagement geht. Wir etablieren die University auch nicht spontan, sondern nach gründlichen Vorgesprächen über mehr als ein Jahr. Bei denen klar wird, dass die Kooperationspartner das Anliegen der Universität verstanden haben. Sie müssen versprechen, mehrere Jahre mitzumachen und Organisationen einzubeziehen, die schon mit Flüchtlingen und Asylbewerbern arbeiten und verschiedene Wissensbereiche einbringen können.

Welches Bildungsideal verfolgen Sie mit der "Silent University"?
Es geht um eine wachsende Gemeinschaft. Lehrende und Lernende sollen nicht streng geschieden sein. Die Idee ist kollektives Lernen und gegenseitiger Austausch, nicht passive Rezeption. Jeder, der an der Universität partizipiert, kann nach einer gewissen Zeit selbst dazu beitragen. Unser Ziel ist eine transversale Pädagogik.

Wie finden Sie Ihre Lehrer und Berater?
Wir arbeiten lokal nach dem Open Source-Prinzip. Ein Koordinator knüpft in individuellen Gesprächen Kontakte vor Ort und erklärt die Prinzipien der Universität. Unser wichtigstes Kapital ist Vertrauen. Wenn Flüchtlinge neben ihren alltäglichen Überlebensproblemen das Gefühl bekommen, sie können diese Sache selbst in die Hand nehmen, machen sie mit. Und bringen wieder Menschen mit, denen sie vertrauen. Jeder bekommt übrigens ein Honorar und wird wie ein professioneller Akademiker behandelt.

In welchen Städten existiert die "Silent University" bereits?
Es begann in London. Dort sind inzwischen der Ausstellungsraum "The Showroom" im Boot und das "Refugee Studies Centre" der Universität Oxford. Ein Jahr später kam Stockholm dazu. Hier sind die Tensta Kunsthalle und der Arbetanes Bildingsförbund (ABF) beteiligt. Ende letzten Jahres wurde es in Hamburg zusammen mit der dortigen Stadtkuratorin, der "W3 Werkstatt für internationale Kultur und Politik" und dem Verein "Zusammen leben und arbeiten" etabliert. Im letzten Monat kam Ammann hinzu, ein vollkommen anderer Kontext als in Europa. Und jetzt eben in Mülheim an der Ruhr.

Was hat den Ausschlag für eine "Silent University" in Mülheim gegeben?
Das Impulse-Theater-Festival 2015 dort ist eine gute Möglichkeit, die "Silent University Ruhr" zu präsentieren. An fünf Tagen gibt es Vorträge von der deutschen Flüchtlingspolitik bis zur arabischen Kalligraphie. Das Projekt wird von Impulse gemeinsam mit dem Ringlokschuppen Ruhr und Urbane Künste Ruhr getragen getragen und wird in der ersten Phase gefördert von der Kulturstiftung des Bundes. Auch die Stadt Mülheim ist im Boot. Es gibt eine Koordinatorin, die das Projekt langfristig betreut. Im Augenblick ist es bereits für drei Jahre gesichert. Im Moment suchen wir noch Spenden für die Bibliothek der "Silent University" dort.

Was ist Ihre eigene Aufgabe in der "Silent University"?
Ich selbst vernetze die verschiedenen Städte global. Aber die University beginnt, unabhängig von mir zu funktionieren. Sie ist nicht fokussiert auf eine Person oder einen Künstler.

Wer finanziert das Projekt?
Am Anfang waren das die beteiligten Institutionen. Sie bringen ein Budget ein. Nach ein, zwei Jahr muss man sich wieder neu bewerben. Es gibt viel internationale Aufmerksamkeit für das Projekt. Und wir versuchen nun, Geld aus globalen Fonds für die Universität zu beantragen.

Gibt es Abschlüsse und Zertifikate an der "Silent University"?
Wir vergeben an die Lehrenden Zertifikate. Es gibt auch Universitätsausweise. Sie verschaffen internationale Anerkennung. Und inspirieren andere Universitäten zur Zusammenarbeit.

Die "Silent University" hat ein Logo in Form eines Schilds in den Farben Schwarz-Gelb. Was hat das zu bedeuten?
Es ging von Anfang an darum, eine institutionelle Identität zu signalisieren, die für alle Wissensbereiche und Sprachen steht. Das ist wichtig für die Anerkennung des Projekts. Deswegen heißt es auch Universität und nicht Schule oder Akademie. Das Logo nimmt diese Tradition lange bestehender Institutionen auf. Und die Farben? Gelb steht für eine gewisse Dringlichkeit. Schwarz symbolisiert die Grenze.

Zur Person: Ahmet Öğüt, geboren 1981 in Diyarbakir, studierte Kunst und Design in Ankara, Istanbul und Amsterdam. Er lebt und arbeitet in Istanbul, Amsterdam, Berlin und New York. 2014 zeigte das Horst-Janssen-Museum Oldenburg seine Einzelausstellung "Apparatuses of Subversion". 2012 wurde Öğüt mit dem Visible Award der Cittadellarte – Fondazione Pistoletto und Fondazione Zegna für "The Silent University" ausgezeichnet. 2009 repräsentierte Öğüt die Türkei auf der 53 Biennale von Venedig mit "Exploded City". Öğüt  ist Initiator von "The Silent University".