Gillette-Debatte

In der Kunst ist die neue Männlichkeit nicht neu

Leonardo da Vincis Johannes der Täufer

Gillette kassiert einen Shitstorm für einen Werbespot, in dem Männer als empfindsame Wesen dargestellt werden. Da ist die Kunst längst weiter

Ist grillen jetzt schon toxische Männlichkeit? Geht Empathie nur glattrasiert? Und ist ein amerikanischer Riesen-Rasierkonzern, der sich plötzlich der Umerziehung von Machos widmet, nun ein Erfolg des Mainstream-Feminismus oder der heuchlerische Versuch, politische Korrektheit in Geld zu verwandeln? Wie auch immer man zum heiß diskutierten Gillette-Werbespot steht, der sich grob mit der These "Neue Männer braucht das Land" zusammenfassen lässt: Die erbosten Reaktionen inklusive Zerstörung von Mach-3-Turbo-Apparaten zeigen, dass die Idee einer nicht machistischen Männlichkeit noch immer eine Provokation ist. 

 

Wer das Ganze nun als zeitgeistigen Tugendfuror im Kielwasser von #MeToo abtut, könnte einen Blick in die Kunstgeschichte wagen. Denn dort finden sich immer wieder Männerdarstellungen jenseits von Krieger- und Verführerklischees. Die "neue Männlichkeit", nach der derzeit fieberhaft gefahndet wird, ist also gleichzeitig eine uralte.

Eine Kulturgeschichte des sanften Mannes muss mit antiken Jünglingen wie Amor, Narziss und Pygmalion beginnen, die in Variationen von sinnlicher Verzückung bis heute in der abendländischen Kunst auftauchen. Ein weiterer Urtyp ist die Figur des Heiligen. Zwar gibt es auch drachentötende Exemplare, doch Empathie, Duldsamkeit, Friedfertigkeit und Wohltaten sind die vorherrschenden Eigenschaften der Branche. Jesus darf segnen, umarmen, mitfühlen und schließlich öffentlich leiden und hadern, ohne dass ihm seine Männlichkeit abgesprochen würde. Dass die christliche Kirche dann trotzdem eine eher autoritäre Machtclique geworden ist, ist zumindest nicht diesem überlieferten Vorbild anzulasten. 

Zum 500. Todestag von Leonardo da Vinci wird auch 2019 wieder global von seinen weichen, überwiegend perfekt rasierten Männerfiguren geschwärmt werden. Was im Netz für einen Shitstorm sorgt, ruft auf der Leinwand seit Jahrhunderten Bewunderung hervor – und zeigt gleichzeitig, wie schnell beim zärtlichen Blick eines Mannes auf einen anderen Mann auf die Sexualität des Künstlers geschlossen wird. Gegen da Vincis prachtlockigen und zartwangigen Täufer Johannes wirken selbst die Vorbildmänner im Gillette-Werbespot wie Muskelmachos. Nicht nur Sigmund Freud hat aus diesem und anderen Bildern die latente Homosexualität Leonardos herausanalysiert.  

Selbst beim eher für Revolutions- und Katastrophenbilder bekannten Maler Eugene Delacroix lassen sich überraschende Momente der Zartheit entdecken. 1835 stellte er ein Gemälde fertig, das ein junges Paar vom Stamm der Natchez in Mississippi zeigt, das dem Massaker durch die französischen Siedler entkommen ist. Während die Frau, die offenbar gerade ein Kind geboren hat, noch völlig erschöpft am Boden liegt, wiegt der nur mit einem roten Tuch bekleidete Mann das Neugeborene zärtlich im Arm. Hier wird nicht die Ankunft eines Stammhalters oder das Fortbestehen einer Familie gefeiert, wie es in der westlichen Kunst so oft der Fall ist. Der Mann wirkt völlig in sich versunken und verzaubert von dem kleinen Wesen, das er vorsichtig festhält. Seine Waffe hat er von sich geworfen, statt des starken Beschützers steht auf dem Bild der frisch gerührte und demütige Vater im Vordergrund. 

Eugène Delacroix "Die Natchez"

Eugène Delacroix "Die Natchez"

Natürlich kann man Delacroix vorwerfen, europäische Stereotypen der Exotik und der amerikanischen Ureinwohner als "edle Wilde" zu bedienen. Doch um eine ähnlich zärtliche Szene von Vaterschaft in der Malerei zu finden, muss man in den Jahrhunderten danach schon engagiert suchen (ein heißer Tipp wäre Bernard Sekotos "The Proud Father" von 1947). 

Ein Konjunkturhoch erlebten die empfindsamen Herren in der deutschen Moderne um 1900, wie die Ausstellung "Zarte Männer" im Berliner Georg Kolbe Museum noch bis zum 3. Februar 2019 unter Beweis stellt. Die Skulpturen von Kolbe, Wilhelm Lehmbruck oder Georg Minne zeigen verletzliche Körper, die im Gegensatz zum heroischen Männerbild der Zeit stehen. "In einem Umfeld des kriegerisch-militanten Selbstbewusstseins der späten Kaiserzeit und noch junger Demokratiebewegungen suchten die vorwiegend männlichen Künstler nach Verfeinerung von Körper und Geist", heißt es im Ausstellungstext. "Der Kult um die Jugend, der sowohl in militanten wie in pazifistischen Kreisen in der Zeit um 1900 blühte, beflügelte dieses Ideal des zarten Mannes."

Die soldatische Härte des Zweiten Weltkriegs ließ keinen Platz mehr für Zartes. Doch in der zeitgenössischen Kunst sind die Beispiele für alternative Männlichkeit zu zahlreich, um sie aufzulisten. Bei Malerinnen wie Alice Neel, Elizabeth Peyton oder Lynette Yiadom-Boakye ist nichts toxisch, sondern alles introvertiert gefühlvoll. Und selbst die Haar- und Bartpflege, die in der Werbung so lange mit Aufrüstungsrhetorik ("jetzt noch mehr Klingen mit Fusion 5 Proshield"), muskulösen Spartanern im Frottee-Lendenschurz und bewundernden Frauen als Beiwerk verknüpft war, wird in der Kunst umgedeutet. Der US-Künstler Devan Shimoyama zeigt in einer glitzerbunten Collageserie seit 2017 weinende Männer beim Haareschneiden. Weibliche Tränen beim Friseur sind spätestens seit den ersten Umstyling-Folgen von "Germany’s Next Topmodel" ein akzeptiertes Kulturphänomen. Männertränen sind dagegen – außerhalb des Sports – noch immer so selten wie die von Einhörnern. 

Shimoyama bricht in seiner Kunst nicht nur dieses Tabu, sondern thematisiert auch die Bedeutung des Barbershops für die Idee von schwarzer Männlichkeit. Für den Künstler wird dort einerseits definiert, was ein schwarzer Mann zu sein hat, andererseits bleibt auch Platz für Intimität, Kameradschaft und Pflege im wörtlichen wie übertragenen Sinne. 

In der Kunst ist die giftige Männlichkeit, wie sie nicht nur Gillette öffentlichkeitswirksam anprangert, schon lange nicht mehr die Norm. Trotzdem scheint die Hinwendung zum Zarten nicht allen zu gefallen. Julia Wallner, Direktorin des Kolbe-Museums, erzählt von erbosten und teils homophoben Zuschriften über die empfindsamen Skulpturen. Warum man denn keine "normalen Männer" zeigen könne, hieß es darin, oder warum die Ausstellung so "schwul" sein müsse. "Eine solche Resonanz habe ich noch nie gehabt", sagt sie. "Es ist ungewöhnlich, dass figürliche Skulptur überhaupt noch jemanden provozieren kann."

Trotz der teils hasserfüllten anonymen Botschaften hält Julia Wallner die Ausstellung für einen Erfolg. "Sie hat definitiv einen Nerv getroffen", sagt sie. "Es ist doch gut, wenn Kunst zu einer so aktuellen Debatte beitragen kann." Die zarten Männer in der Skulptur haben zwar nicht annähernd die Aufmerksamkeit der Gillette-Herren auf Youtube erfahren, doch sie haben immerhin für eine Premiere gesorgt. Die Schau ist die erste im Kolbe Museum, die mehr Männer als Frauen gesehen haben.