Architekturbiennale in Chicago

Häuser streichen mit Amanda Williams

Früh aufstehen ist nicht gerade mein Ding. Aber die innere Uhr geht ja noch vor, insofern kam der Besucher der Chicago Architecture Biennial ganz gut auf die Beine – heute morgen um 6.30 Ortszeit. Es geht wieder zur South Side. Diesmal steuert das Taxi nicht die Gegend um die Dorchester Street an, wo Theaster Gates zu Hause ist. Die Adresse lautet heute 5703 South Lafayette Street. Die Künstlerin Amanda Williams – die mit ihrer Familie nur einige hundert Meter weiter wohnt – vollendet an einem einsam stehenden Häuschen ihr Projekt "Color(ed) Theory". Um sieben Uhr geht’ los, "weil die Gegend am späteren Vormittag schon ziemlich unsicher wird", erklärt Amanda.
 
In der Biennale-Ausstellung im Cultural Center präsentiert die Architektin und Künstlerin Fotos von sieben komplett neu gestrichenen Häusern des abgerockten Südens von Chicago. Das achte Haus wurde am heutigen Sonntagmorgen angemalt. Und die Besucher mussten mit ran. Offen gesagt: Ich selber habe höchstens einen Quadratmeter geschafft. Ich wollte ja Fotos der Aktion machen und mit Amanda Williams reden. Die Idee, abbruchreife Häuser vor ihrem Verschwinden in kräftigen Farben leuchten zu lassen, sei ihr während ihrer Kurse am Columbia College gekommen, sagt Amanda. An der Chicagoer Uni hat sie Studenten in Farbenlehre unterrichtet. Natürlich spielte das Bauhaus, mit Kandinsky oder Itten, eine Rolle.
 
Williams’ "Color(ed) Theory" weicht vom klassischen Schema ab. Ihre Farben heißen Ultrasheen, Pink Oil, Newports/Loose Squares, Safe Passage oder Crown Royal und orientieren sich an Farben aus Popkultur und Infografik. Currency Exchange ist dem Blau von Wechselstuben nachempfunden, Harold’s Chicken Shack ist ein Rotton, der sonst das Corporate Design der gleichnamigen Imbisskette bestimmt. Kurz vor dem Abriss leuchten die einfachen Holzhäuser also in Farben, die dem im Kiez üblichen Anstrich entgegensteht. Ebenso dem Braun, Grau, Anthrazit, Ziegelrot und Beige, jenen Farben, die die Architektur der Jahrhundertwende bis Ultramoderne im Stadtzentrum prägt.
 
Die Farbe des Sonntagmorgens ist Flamin’ Red Hots – ein strahlendes Orange. Zwei Dutzend Anstreicher, rekrutiert aus Leuten aus der Gegend und Biennalegästen, schwingt die Farbroller. Um bis zum Dachfirst zu kommen, werden Teleskopstangen ausgefahren. Der Lattenzaun, der Efeu, alles verschwindet unter oranger Farbe. Spätestens um 11 Uhr ist das Haus an der Lafayette, Ecke 57th Street nicht mehr zu übersehen. Ein Nachbild bleibt, auch wenn dieses und die anderen sieben Häuser schon längst verschwunden sind. Theaster Gates rettet alte Häuser, Amanda Williams markiert, was nicht mehr zu retten ist. Beide arbeiten in Chicago gegen das Vergessen – von Häusern, Vierteln, Menschen.