Kunstkritiker

Happy Birthday, Clement Greenberg!

Er war anmaßend, eitel und egoman – und doch folgten Künstler blind seinem Rat: Kein Kritiker hat die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts stärker ge­prägt als Clement Greenberg. Der Siegeszug des abstrakten Expressionismus, der Weltruhm Jackson Pollocks – kaum denkbar ohne die Autorität seiner Urteile. Matthew Collings erinnert sich an seine Begegnungen mit ihm

A­m Ende des Tages ist die Arbeit eines Kunstkritikers nicht sonderlich wichtig. Kunst hat Bestand, Kritik ist nur das Öl der Maschinerie, die sie verkauft – ein Wegwerfprodukt wie die Meinungskolumnen großer Tageszeitungen. Ohnehin haben die Ansichten von Kunstkritikern etwas Schwammiges: Man erwartet von ihnen, dass sie verkünden, was die meisten ohnehin schon wissen und problemlos verdauen können, bloß ein biss­chen zugespitzt – wie die Gags eines Stand-up-Comedians, nur bitte unzugänglicher formuliert.

Clement Greenberg, die große Ausnahme von dieser Regel, schrieb weder übertrieben poetisch, noch neigte er zu Stilblüten. Er setzte Kunst auch nie groß mit anderen Themen in Beziehung, und wenn, dann auf höchst gelehrte Weise, die Klatsch- und Spaßgesellschaft nahm er dagegen kaum zur Kenntnis. Und obwohl er sich eine Zeit lang mit Politik beschäftigte, lesen sich seine Texte so, als seien alle politischen Fragen längst beantwortet, ja als würden sie sich nicht einmal stellen. Anders gesagt: Würde er heute noch schreiben, wären seine Texte todlangweilig. Was weniger an ihm liegt als an der zeitgenös­sischen Kunst, an ihrer Bezogenheit auf Markt und Entertainment, ihrer Lust am Luxuriösen, Grellen, Nihilistischen.

Während des Zweiten Weltkriegs und in den Jahren danach schrieb Greenberg Rezensionen und Essays für kleine, intellektuelle Magazine in New York – Magazine von Geistesmenschen für Geistesmenschen. Man ging damals davon aus, dass Gedanken aus den höheren geistigen Sphären in breitere gesellschaftliche Schichten durchsickern, dass sie etwas bewirken und dass somit Kritik keine überflüssige Übung ist. So konnte eine Figur wie Jackson Pollock, den Greenberg schon seit einiger Zeit in kleinen Kulturzeitschriften gepriesen hatte, als Folge eines Artikels im Life Magazine 1951 ins Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit dringen.

Ausgerechnet Pollock. Ein schwieriger, radikaler Künstler, verkannt außerhalb eines kleines Freundeskreises, notorisch pleite, emotional zerbrechlich, und dann arbeitete er noch abstrakt – und zwar sehr abstrakt: mit Ölfarbe, die er losgelöst von jeglicher Repräsentation, jeglicher erkennbarer Referenz einsetzte, einfach nur als Farbe, die Raum, Maßstab, Rhythmus, Linie und Bewegung um ihrer selbst willen zelebrierte.

Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: In einer kulturell extrem konservativen Zeit kommt ein Kunstkritiker daher und adelt eine irgendwie närrische, irgendwie narzisstische Perversion mit Begriffen wie „Maßstab“ und „Rhythmus“. Dabei trifft er nicht nur feine Unterscheidungen zwischen einer Kleckserei und einer anderen, sondern besitzt auch noch die Chuzpe, den Mumpitz, den ein offensichtlich verblendeter Maler tief in der ödesten Provinz in der Baracke hinter seinem heruntergekommenen Holzhaus fabrizierte, mit einer überzeugenden, eleganten und klaren Darstellung von Geschichte und Gesellschaft in Beziehung zu setzen, mit einer originären Konzeption von Fortschritt und Zerfall.

„Der meistgehasste Kritiker in Amerika“

Heute ist Kunst längst nicht mehr Sache von Außenseitern, sondern fester Bestandteil der Konsumgesellschaft. Das, was als „radikal“ gehandelt wird, tut niemandem weh, es amüsiert höchstens und täuscht eine Haltung meist nur vor. Und die Kritiker? Sie, die eigentlich kommentieren sollten, was in der Kunst aktuell vor sich geht, sind ähnlich lauen Geis­tes: Sie verdingen sich als Diener der Konsumgesellschaft.

Greenberg stand weit über diesen Dingen. Er wurde am 16. Januar 1909 geboren, 2009 hätte er seinen 100. Geburtstag gefeiert; 1994 starb er an einem Lungenemphysem. Er trank viel und rauchte stark, Florence Rubenfeld behauptet in ihrer 1999 erschienenen Biografie, er habe auch Kokain und Heroin genommen. Ich traf ihn mehrere Male in den frühen 90er-Jahren, etwas Stärkeres als Whisky und Zigaretten hat er mir nie angeboten. Er hat auch nie viel verdient, es ist eher unwahrscheinlich, dass er sich regelmäßigen Kokainkonsum hätte leisten können. Ich besitze ein Videoband von einem meiner Interviews mit ihm, in dem er sagt: „Ich bin der meistgehasste Kritiker in Amerika – das wissen Sie, oder? Oder? Na ja, was soll’s – was soll’s!“

Er machte sich viele Feinde, weil er nicht selten Leute erbarmungslos herabsetzte; vielleicht aus psychologischer Ehrlichkeit, emotionaler Reife, aus Unwillen, über moralische Schwäche hinwegzusehen. Er lehnte auch sämtliche Kunstströmungen ab, die er selbst nicht ernst nehmen konnte – ab 1960 war das so ziemlich alles, was es gab. Sein Einsatz galt der Kunst, deren Inhalt im visuellen Erlebnis bestand: Ein Bild oder eine Skulptur waren nichts als eine abstrakte Offerte, eine visuelle Formation, die entweder gelungen war oder missglückt. Welches von beiden, das sah man einfach, zumindest, wenn man einen geschulten Blick hatte, wenn man hinreichend viel Kunst betrachtet und lange genug über sie nachgedacht hatte.

Kein Trendzombie-Gewäsch

Die Wirkung seiner Texte entfaltet sich nach und nach – sie wachsen mit jeder Lektüre. Sie sind klassisch, weise, verdichtet, eine Abfolge von Urteilen und Beschreibungen, gut formuliert, aber frei von stilis­tischer Effekthascherei und persönlicher Note. Greenberg-Zitate sind kaum geeignet, einen Text aufzupeppen, dazu sind sie zu geradlinig, fast schon deprimierend in ihrer Präzision. Wer ihn heute liest, wird scho­ckiert feststellen, dass zwei der gängigsten Elemente gegenwärtiger Kunstkritik völlig fehlen: launige Selbstbezogenheit sowie selbstzufriedenes Trendzombie-Gewäsch. Es findet sich weder schmissige Cleverness noch quälende Tugendhaftigkeit.

Hat man sich an Greenbergs nüchternen Ton erst einmal gewöhnt, kommt man aus dem Staunen darüber nicht heraus, wie wenig veraltet, ja wie zeitlos er ist. Er beharrt darauf, dass sich abstrakte Werte in der abstrakten genauso wie in der figurativen Kunst offenbaren, in der Kunst der Vergangenheit genauso wie in der gegenwärtigen.

Er ist gut darin, Reinheit und Unreinheit auf den Punkt zu bringen. Surrealistische Malerei galt ihm als Beispiel für Letzteres. Sie sei eine Kunst der „stellvertretenden Wunscherfüllung“ – der Künstler offenbare, „wie er sich das Leben wünscht oder wie er – darin ähnelt er einem Kind – sich lieber ängstigen würde“. Wenn er die Beschränkungen der surrealistischen Malerei – ihre Bedeutungshuberei, ihren Mangel an visuellem Gehalt per se – beschreibt, dann meint man, darin auch die Beschränkungen der Kunst von heute zu erkennen: „Die surrealistische Bildsprache stellt der Malerei neue Anekdoten zur Verfügung, die sie illus­trieren kann, so, wie die Ereignisse des Tages dem Cartoonisten neue Themen liefern, doch sie füllt die Malerei mit keinerlei neuem Gehalt. Im Gegenteil, sie betreibt die Rehabilitierung steril-akademischer Kunst unter dem Deckmantel der Literatur.“

Der letzte Atemzug des Modernismus

Jeder ist vertraut mit der farbenfrohen, großformatigen Kunst der 60er-Jahre, für die Greenberg eintrat. Sie ist der letzte Atemzug des Modernismus. Danach wurde Kunst umgangssprachlich – ironisch statt ernsthaft, düster und pessimistisch statt optimistisch. In gewisser Weise hat Greenberg diesen hochdekorativen Stil erfunden, indem er seine Vertreter ermutigte und indem er über diese Kunst schrieb, als füge sie einer großen Tradition einen neuen Akzent hinzu und nicht nur – wie man hinterher erkannte – eine verspätete Fußnote, als das Kapitel bereits beendet war.

Es wird gern übersehen, dass „abstrakte Werte“ für Clement Greenberg keineswegs eine Abwesenheit des Menschlichen im­plizierten. Die Kompositionen, die ineinandergreifenden Farbflecken, die vertikalen Formen und konzentrischen Kreise waren, was sie waren – wichtig war ihm vor allem die überaus menschliche Qualität, die darin lag: „Die Farbigkeit, das Vertikale, das Konzentrische, die Verschränkung von Formen – all das existiert nicht um seiner selbst, sondern zuallererst um des Gefühls willen. Wenn diese Bilder als Ausdruck und Vermittler von Gefühlen scheitern, so scheitern sie gänzlich.“

Warum hörten so viele Künstler und Kritiker auf ihn? Worauf gründete sich seine Autorität? Zwei Gründe: Zum einem war er es, der die abstrakten Expressionis­ten entdeckte und eine Weltanschauung formulierte, die ihre Kunst beglaubigte – auch wenn seine Sicht der Dinge nicht unbedingt dem anmaßenden und verklärten Bild entsprach, das so mancher Künstler von sich selbst hatte.
Zum anderen schrieb er über die damalige Szene auf eine eigentümlich distanzierte Weise, als würden ihm die Gedanken von der Geschichte selbst eingegeben, als hätten sie etwas Gewaltiges, Zwangsläufiges an sich, während sie zugleich aus dem Innersten der Kunst zu kommen schienen – als spreche er mit der Stimme der Kunst und nicht mit der des Poeten. Im Vergleich zu Greenbergs Texten wirkten die anderer Kunstautoren blumig und irrelevant.

Greenberg war ein schwieriger Mensch

Es ist bezeichnend, dass sein Stil und seine Strenge eine Welle auslösten, eine neue Art zu schreiben, die seine Vorherrschaft schließlich beendete. Seine Nachfolger beriefen sich reflexartig auf Marx und Freud (von denen auch Greenberg geprägt war, ohne deshalb zwanghaft auf sie zu referieren) und schienen mit modernistischer Rastlosigkeit mehr anfangen zu können. Und als 1962 Pop aufkam, galt es als Zeichen von Weltläufigkeit, ihn als gefallene Gottheit zu betrachten – als Tyrannen und Machtmenschen, der obendrein konservativ und korrupt war.

Die Kritikerin Rosalind Krauss, die einst von Greenberg protegiert wurde und später bei der Zeitschrift October – wo sie bis heute Hof hält – das große Wort führte, griff ihn in einem langen Artikel dafür an, dass er nach dem Tod von David Smith die Farbe von einigen seiner Skulpturen entfernt hatte, ein Vorwurf, den sie mit Fotos belegte. Stimmt – Greenberg fand, dass sie so besser aussahen, und er war einer von Smiths Nachlassverwaltern. Aus demselben Grund beschnitt er nach dem Tod von Morris Louis dessen Gemälde.

Andere sagten ihm nach, dass er jedes Jahr mindestens 100 000 Dollar von den Galerien bekäme, deren Künstler er mit seinen Artikeln unterstützte. Das war, wie sich herausstellte, frei erfunden, während die Vorfälle mit David Smith und Morris Louis nicht annähernd so sensationell waren, wie die Leute sich das wünschten. Indem er die Leinwände beschnitt und die Farbe (die in Wirklichkeit Grundierung war) entfernte, setzte er nur fort, was er schon für die beiden Künstler getan hatte, als sie noch lebten – und ihm dafür dankbar waren.

Greenberg war ein schwieriger Mensch. Er hatte Überzeugungen, mit denen viele Menschen schlicht nicht einverstanden waren. Doch die Art und Weise, wie er sie zum Ausdruck brachte, verlieh ihm eine solche Autorität, dass man seine Sicht weiter in sich trug, auch wenn man sich längst von seinem Einfluss losgesagt hatte.

Wunderbar, dass jemand Kunst so ernst nahm

War man Greenberg einmal verfallen gewesen, blieb sein Standpunkt als unbewusster Vorwurf zurück: Du bist schwach, du bist im Unrecht, du bist fehlgeleitet! Er besuchte Künstler in ihren Ateliers, sah sich ihre Arbeiten an und sagte ihnen die Meinung. Sie ließen sich bereitwillig von ihm belehren, hörten sich an, was sie falsch machten und wie sie es besser machen konnten – sie dachten, sie hätten diese Behandlung nötig. Sie waren sogar süchtig danach. Er war es, der sie zu Künstlern formte – einige von ihnen, etwa Kenneth Noland und Morris Louis, wurden von ihm förmlich aus der Dunkelheit mitten ins Rampenlicht gezerrt (zumindest für eine Weile, bis die nächste unvermeidliche Welle sie wieder vom Sockel riss).

Die psychologischen Implikationen waren sicher nicht ohne: Der mythologische Vater, der die Wahrheit über die Bemühungen seiner von Selbstzweifeln befallenen Söhne verkündet. Sind sie fehlgegangen, oder sind sie auf dem rechten Weg? Sehr sonderbar das Ganze. Aber auch wunderbar: dass jemand Kunst so ernst nahm und der Ausdruck dieser Ernsthaftigkeit ein solches Gewicht hatte!

Clement Greenberg war der letzte Kunstkritiker, der für ein hierarchisches Verständnis von Kunst stand, für eine Rangordnung von Werken und Schöpfern, dieses über jenem, dieser unter jenem, entsprechend dem unausweichlichen Urteilsspruch der Geschichte, dem Konsens über wahre Qualität, den eine Kultur im Verlauf von Jahrhunderten erzielt. Das widerspricht der heute gängigen Vorstellung, es gebe verschiedene Kunst für verschiedene Menschen. Greenberg, der selbst nie ein künstlerisches Studium absolviert hatte und den Wunsch, Maler zu werden, schließlich aufgab, hätte dem vielleicht nicht widersprochen, doch er neigte dazu, den Großteil der Kunstproduktion mit Verachtung zu strafen.

Nur das Beste war es wert, berücksichtigt zu werden, und das war bestimmt nicht die Kunst, die besonders geschickt einer Vielzahl unterschiedlicher Erwartungen entsprach. Im Gegenteil, es war Kunst, die so tat, als würde Pluralismus, diese Perversion der Moderne, überhaupt nicht existieren. Anders gesagt: Moderne Kunst war für ihn dann gelungen, wenn sie die geschwätzige Mehrheit der Kunstproduktion kritisierte, indem sie an die hohen Standards vormoderner Kunst anknüpfte.

Die Form selbst ist ein Gedanke

Es ging ihm darum, den neuen Konzepten zu widerstehen, die die Moderne im Übermaß hervorbrachte. Harold Rosenberg, Greenbergs Konkurrent mit dem verwirrend ähnlichen Namen, erfand für sämtliche Künstler, die wie Pollock oder de Kooning malten, den Oberbegriff „Action-Painting“, um ihrer Kunst der improvisierten, aufgewühlten, sich stets verändernden und verschmelzenden Formen den Anschein einer übergreifenden moralischen Qualität zu geben, die bei ihm „Existen­zialismus“ hieß. Greenberg dagegen war der Meinung, Kunst könne auf literarische oder philosophische Konzepte gut verzichten. Was die Farbkleckse bedeuten, ist egal. Ihre Bedeutung liegt in der Form: Die Form selbst ist ein Gedanke.

Nicht nur sein extremer Antirelativismus hat dazu geführt, dass Greenberg heute in Vergessenheit geraten ist, sondern auch die Tatsache, dass seine Vorstellung von reiner Kunst der linken Politik seiner Zeit keineswegs widersprach. In den späten 30er- und bis in die 40er-Jahre hinein, als er in langen Essays seine wichtigsten Gedanken zum Verhältnis von Modernismus und Geschichte darlegte, war er Trotzkist. Die Zeitschriften, für die er schrieb, waren damals in zwei Fraktionen gespalten, in Pro-Stalinisten und Anti-Stalinisten – er gehörte zu den Gegnern. (Als er 1951 aufhörte, regelmäßig Kunstkritiken zu schreiben, lag das zum Teil an einem Streit über die stalinistischen Tendenzen eines dieser Blätter.)

Am Ende des Jahrzehnts machten US-Behörden vom abstrakten Expressionismus Gebrauch, um im Ausland amerikanische Ideologie zu propagieren: Unscharfe Rechtecke und Farbkleckse konnten politisch interpretiert werden, schließlich hatten sie mit „Freiheit“ und „Individualismus“ zu tun, und das war ganz sicher antikommunistisch. Obwohl Greenberg sich nie auf so grob vereinfachende Weise über die von ihm geschätzten Künstler geäußert hatte, behielt er seine antisowjetische Position bei, und als in den 70er-Jahren herauskam, dass die amerikanischen Ausstellungen in Europa vom CIA unterstützt worden waren, nahmen ihn die Linken als Kultur­imperialisten ins Visier.

Irgendwann war Autorität nicht mehr gefragt

Inzwischen unterstützte Greenberg die Farbfeldmalerei, eine neue Kunstströmung, für die Kenneth Nolands Streifen und Zielscheiben typisch waren. Es ging um die Erschließung neuer Möglichkeiten des ästhetischen Genusses: neue Formate, eine größere Luftigkeit, gesteigerte oder sattere Farbeffekte. Doch mittlerweile gab es so viele neue Entwürfe von Künstlerschaft, und die Farbfeldleute schienen eher beflissene Schüler zu sein als originäre Köpfe.

Warum waren die Künstler, die Greenberg nach der Pollock-Generation förderte, seiner Unterstützung letztendlich scheinbar nicht würdig? Hier ein paar typische Erklärungen: Ihr Output war zu unbeständig, sie waren keine tragischen Figuren, sie waren nicht selbstzerstörerisch, sie waren nicht heroisch, sie waren zu erfolgreich, sie produzierten zu viel, Abstraktion ist sowieso ein bisschen langweilig, außerdem war Greenbergs Einsatz für sie zu unterschiedslos – und wenn er mal jemand die Unterstützung versagte, dann aus wirren psychologischen Gründen. In all diesen Mythen steckt ein Funken Wahrheit.

Vor allem aber war Clement Greenberg eine Autoritätsperson, und von einem bestimmten Zeitpunkt an war Autorität selbst nicht mehr gefragt. Sich auf die Autorität der Geschichte zu berufen, um einem Qualitätsurteil Geltung zu verschaffen, schien nur noch lächerlich. Geschichte war nichts anderes als Archäologie.

Clement Greenberg schrieb über die Kunst der Vergangenheit nicht anders als über die Kunst seiner Zeit, nämlich von einem visuellen Blick­punkt aus. In wenigen Zeilen konnte er eine Verbindung zwischen bunten mittelalterlichen Kirchenfenstern, nordeuropäischer Renaissancemalerei, persischen Miniaturen und abstrakter amerikanischer Malerei herstellen: Sie alle stillen denselben Hunger nach Form, Symmetrie, Struktur und Licht.

In den 50er-Jahren hörte Clement Greenberg zwar auf, Avantgardismus und Sozialismus miteinander in Beziehung zu setzen, doch die sozialen und historischen Realitäten behielt er immer im Blick. Jeder seiner Essays erhellt die Hintergründe und Zusammenhänge, die ihm zur Erklärung seiner Urteile und Eindrücke nötig schienen – als seien Zusammenhänge per se ungeheuer faszinierend, weil da irgendwo etwas ist, das zuerst da war, frei von einem Kontext.

Aufgrund von Marktdynamiken wurde Kunst in den 80er-Jahren populär. Und aus demselben Grund kommen jetzt härtere Zeiten auf sie zu. Wie wird das die Kunst verändern? Geld wurde virtuell, irreal, bis das Realitätsprinzip zuschlug. Gibt es dafür eine kulturelle Entsprechung? Könnte es sein, dass Erfolg und Scheitern eine reale Dringlichkeit erhalten, anstatt nur Variablen in einem künstlerischen Spiel zu sein, das die Wirklichkeit immer weiter aufschiebt? Dass visuelle Verbindlichkeit, nachvollziehbare Kunstfertigkeit, Formen, die Komplexität, Kraft und Gehalt ausstrahlen, an die Stelle von weit hergeholten Ideen treten, die dazu dienen, Arbeiten zu rechtfertigen, die genauso aussehen wie alles andere?

Das Verdrängte kehrt zurück

Welche Chancen haben wir? Ist Modernismus noch eine Option, ist der Geist eines anderen Zeitalters noch gefragt? Man hat uns beigebracht zu glauben, all das sei obsolet, weil das Paket der Moderne zu viel soziale Ungerechtigkeit enthielt, die der Reformismus der Postmoderne kurieren sollte. Aber wir wissen, dass sich die Reform erschöpft und in eine Lüge verwandelt hat. Und siehe da: Plötzlich erscheint die Prämisse des Modernismus, sein Kampf gegen die Unwahrheit, wieder attraktiv.

Steht also die Befreiung der Kunstwelt von Glanz und Glitter an? Das Geld verschwindet, und infolgedessen erleben wir eine Neubewertung aller Werte; gut möglich, dass sich unser Kunstinteresse wieder auf die Werke selbst richten wird, weniger auf den Glamour oder die Rituale von Gesellschaft, Politik und Moral, die sie umgeben. Wann ist Kunst wirklich gut, wie muss sie beschaffen sein, um einen moralischen Gehalt nicht nur theoretisch zu verkörpern, sondern kraft ihrer visuellen Präsenz unmittelbar hervorzubringen oder nahezulegen? Wie kann sie echte Validität erreichen, zum Teil des großen Ganzen der Vergangenheit und ihrer Höhepunkte werden und dabei trotzdem mit den Mitteln des Hier und Jetzt arbeiten, mit heutiger Geschwindigkeit und Dringlichkeit? Wenn es ein Thema gibt, zu dem man bei Greenberg etwas lernen kann, dann das.

Seine Texte aus den 30er- bis 90er-Jahren erfüllen ein Bedürfnis, von dem wir nicht wussten, dass wir es haben. In seinen Essays und Kritiken beleuchtet Greenberg das Problem, Kunst in einem historischen Moment zu schaffen, in dem kein Künstler, der einen Blick dafür hat, sich der Bürde der Geschichte und des Vorangegangenen entziehen kann, in dem aber zugleich jahrhundertealte Traditionen als irrelevant für das heutige Leben abgetan werden und deshalb einem Großteil der Gesellschaft unbekannt sind.

Was macht man als Künstler in einer solchen Situation? Folgt man den visuellen Trends, den Substituten der Ernsthaftigkeit: Kitsch, Massenmedien, Sensationsgier? Oder versucht man, auf die verlorenen Traditionen zurückzugreifen, um dem Genuss, den man bereitet, eine moralische Dimension hinzuzufügen? Ein Künstler, der mit einem kritischen Blick auf sein Tun verflucht oder gesegnet ist – wie positioniert er sich? Greenberg ist der Guru dieser Fragen: Er begann als Gott, wurde zum Dämonen und Beelzebub, um schließlich in Vergessenheit zu geraten. Doch seine Antworten erhalten neue Dringlichkeit. Das Verdrängte, es kehrt zurück.

Übersetzung: Karsten Kredel

Dieser Text ist ursprünglich in Monopol 1/2009 erschienen 

Alle Zitate stammen aus Clement Greenberg: „The Collected Essays and Criticism. Volume 4“. Herausgegeben von John O’Brian, University of Chicago Press.