Highway to Kunsthalle

An dem Tag, als Kurt Cobain und Nirvana ihre Platte „Nevermind“ veröffentlichten, wohnte er gerade in seinem Auto. Nur noch eine Illusion konnte den sozialen Abstieg, der bereits zum freien Fall geworden war, aufhalten: die vom raketenartigen Durchbruch. Daß dieser am 24. September 1991 tatsächlich seinen rasanten Anfang nahm, war so unaufhaltsam wie überraschend: Die Single „Smells like Teen Spirit“ wurde in allen möglichen Ländern der Welt zum Nummer-Eins-Hit, und Kurt Cobain rang die ihm verbleibenden dreieinhalb Jahre damit, dem Establishment bloß nicht zu nahe zu kommen.

In der Popbranche kann sich durchaus ein Zustand ergeben, wo man sich „oben“ und gleichzeitig „unten“ befindet – der lineare Weg an die Spitze wäre auch gar nicht gut für die Helden einer Sparte, die immer noch mit Auflehnung, mit dem Anderssein in Verbindung gebracht wird.

Gleichzeitig wäre es unvorstellbar, daß jemand, der auf gigantischen Festivals vor 30 000 Leuten spielt, seine Miete nicht bezahlen kann. Er hat einen Vorschuß von seinem Plattenlabel und Honorar für den Auftritt bekommen, der unterfüttert wird von professionellem Marketing. Wer erst einmal in aller Munde ist im Musikgeschäft, der sollte in der Lage sein, die Saison bis zum nächsten Album prächtig zu überstehen. Die völlig ungesicherte Existenz im Scheinwerferlicht allerdings, die gibt es nur in der Kunst.

Dabei ähnelt der Werdegang von jungen Künstlern dem junger Musiker am Anfang der Karriere zunächst verblüffend: Man entwickelt sich, verschickt Arbeitsproben, versucht, sich in einer spezialisierten Öffentlichkeit zu orientieren. Man reist in Städte, die man sonst nur aus dem Verkehrsfunk kannte, schläft nach dem Auftritt hinter der Bühne in Stockbetten mit grauenhaft gemusterter Bettwäsche bzw. nach der Ausstellungseröffnung bei Freunden oder gar nicht. Es wird sehr viel Bier getrunken in dieser Zeit, gelegentlich auch mal mit Drogen oder Sekt auf Eis experimentiert. Später wird man von diesen wilden Anfängerjahren gern sprechen. Währenddessen allerdings hofft man meist, daß sie möglichst bald vorüber sein mögen. Inzwischen sollte man es geschafft haben, auf jemanden zu treffen, der vom Schaffen so überzeugt ist, daß er das Werk vor aller Welt vertritt. Wenn der Künstler „meine Galerie“ oder „mein Label“ sagen kann, ist bald möglich, daß das Schlagzeug von jemand anderem in den Ford Transit gehievt wird oder daß ein Assistent für den Aufbau der Installation zur Hand ist.

Zuvor kommt für beide die Projektphase, in der es heißt: „Es gibt zwar dafür kein Geld, aber für Dich ist es ja auch mal ganz schön, dabei zu sein.“ Hier gilt es, nicht allzu lange zu verweilen. Jetzt werden Weichen gestellt: Finanziell potente Galerien und Plattenlabels können sich eine Vorfinanzierung der Werke ihrer Künstler erlauben und Arbeit vergüten, die erst noch zu leisten ist. Ob es dabei auch gut arbeitende Galerien und Labels sind, erweist sich daran, ob sie einen ausreichend langen Atem haben. Dabei müssen Liebe, Glaube, Hoffnung im Spiel sein – und eben Geld. Und hier führen die bislang so eng nebeneinander laufenden Parallelen zwischen Musik und Kunst plötzlich weit auseinander. Denn niemand würde auf die Idee kommen, Bands nicht wenigstens eine Unterkunft und etwas Aufwandsentschädigung für einen sorgenfreien Aufenthalt zukommen zu lassen, wenn man sie zur Teilnahme an international besetzten Großveranstaltungen einlädt. Oder sie, sobald sie den ersten großen Deal gelandet haben, sogleich zu bitten, den Ertrag an Bob Geldof zu spenden.

Anders in der Kunst: Für die Teilnahme in Museumsoder Kunstvereinsausstellungen sind Honorarverhandlungen für junge Künstler oft eine Frage des Geschicks, wobei nicht selten Galerien einspringen müssen. Ob ein Katalog erscheint, kann auch davonabhängen, ob der Künstler einen Sponsor findet.

Im Museum vertreten zu sein, was zunächst mit Wertzuwachs übersetzt werden kann, heißt also längst nicht, daß man „es geschafft“ hat. Denn Preise entwickeln sich nur, wenn der Künstler im Verkauf oder zumindest in den Gesprä- chen weiß, wie er sich auf dem Markt behaupten kann – durch Selbstmarketing, durch Kontakte der Galerie, durch Zufall. „Der Punkt, an dem die Sache von selbst läuft“, beschreibt der Berliner Galerist Jan Winkelmann, der ausschließlich junge Künstler vertritt, die sich am Anfang ihrer Karriere befinden, den unberechenbaren Zustand zwischen „dabei“ und „außen vor“.

Dieser rätselhafte Punkt ist allerdings auch in der Musik noch nicht geortet worden. „Jungs versuchen, Mädchen zu beeindrucken, und schreiben deshalb Songs – so einfach ist das“, notierte Kurt Cobain ratlos in sein legendäres Tagebuch. Trotzdem hinkt die Kunst hier der Musik weit hinterher, denn man kann sie nicht einfach als Klingelton herunterladen. Kunst baut auf die Gunst der Stifter und Sammler. Der Endverbraucher des Pop hat dagegen nie in Frage gestellt, daß er für die geleistete Arbeit der Künstler etwas bezahlen muß, sei es nun eine Konzertkarte für 69 Euro oder 99 Cent pro Song. Daß versucht wird, dies illegal zu umgehen, wird selbst vom Feuilleton analysiert, Lösungen werden breit diskutiert. Währenddessen ist die Leidenschaft der Stifter und Sammler für die Kunst oft gekoppelt an ein Gegengeschäft. Und Letztere sind die einzige Klientel, von der sich Künstler ein angemessenes Honorar für ihre Arbeit erwarten dürfen, abzüglich der Hälfte des Kaufpreises, der immer an den Galeristen geht, und den zehn bis zwanzig Prozent Rabatt für den Sammler, die ebenso wie die Produktionskosten geteilt werden. Vor Steuern, versteht sich.

Wer einmal ein Jahr in Iserlohn oder Bremerhaven verbringen will, kann sich natürlich um eines der vielen kleinen Stipendien bewerben, die so selten und schwer zu ergattern gar nicht sind, aber vielleicht von einem etwas überkommenen Künstlerbild ausgehen – dem in der Abgeschiedenheit und finanziell halbwegs abgesichert vor sich hin werkelnden Eigenbrötler, der froh ist, seine Ruhe zu haben. Wobei für einen Künstler am Anfang seiner Karriere wahrscheinlich nichts wichtiger ist als Menschen und nichts ungünstiger als Abgeschiedenheit. Auf die Frage, warum so viele gute junge Bands aus New York kommen, lieferte ein Popkritiker die Begründung: Weil es so hart sei, in der Stadt zu überleben. Die Kreativen wären also besonders gefordert und holten alles aus sich heraus.

Viele Kunstpreise und Stipendien verpflichten den Künstler, ein Werk an die Stifter zu verschenken – bei entsprechender Auswahl und Ausdauer ein lukratives Geschäft für den Stifter. Gerne bitten Institutionen auch um Werke, die man zu Fundraisingzwecken versteigern kann, um die Budgets aufzubessern: Der Künstler darf ausstellen, die Einrichtung bekommt ein Dankeschön.

Das schon seit Jahren von den Künstlerverbänden favorisierte Modell, Künstlern gesetzlich geregeltes Ausstellungshonorar zukommen zu lassen, das auf den Eintrittspreis aufgeschlagen werden muß, überzeugt nicht mal die Künstler selbst hundertprozentig. Auch wenn es derzeit der einzige Weg aus dem Dilemma zu sein scheint: Smells like Tarifkommission. Eher sollten sich alle privaten und institutionellen Kulturunterstützer daran gewöhnen, für ihr Geld keine Gegenleistung zu verlangen. Denn nur dann hat auch die Kunst begriffen, worum es in den oberen Plätze der Charts schon immer ging: um wahre, unsterbliche Liebe.