Rivane Neuenschwander

"Andere Menschen sind interessanter als ich"

Rivane Neuenschwanders Vorfahren sind Schweizer, Portugiesen und brasilianische Indianer. Sie ist verankert in Alltag und Kultur ihres Landes, aber ohne dessen so oft beschworene Sambafröhlichkeit – gleichzeitig liegen ihre Bezüge in der internationalen Film-, Musik- und Literaturszene. Im dritten Stock des New Museums zieht „Conversation“ die Aufmerksamkeit auf sich: geschaffen in Anlehnung an Francis Ford Coppolas gleichnamigen Film von 1974, in der sich ein Abhörexperte in der Paranoia verliert, selbst observiert zu werden. Die Installation besteht aus den Resten einer Performance: Im Vorfeld der Ausstellung hat Rivane Neuenschwander einen eigens dafür hergerichteten Raum nach Wanzen abgesucht. Ihre brutale Suche – Fußböden aufschlitzen und Teppiche herausreißen – wurde von versteckten Mikrofonen aufgezeichnet: „Ich weiß nicht wie das klappen soll, ich werde wohl die Wände einreißen müssen“, hört man die Künstlerin sagen.

Die vierte Etage des New Museums gehört „Rain rains“ (2002), eine Installation, in der tropfende Aluminiumeimer übereinander gehängt sind. Die Museumslobby dagegen schimmert bunt: Eine Sintflut farbiger Seidenbänder, jedes einzelne bedruckt mit einem von sechzig Wünschen, wartet auf die Besucher. "Ich wünsche mir Frieden." "Ich wünsche mir den Mann zu heiraten, den ich liebe." "Ich wünsche mir einen leichten Tod." "Ich wünsche Gesundheit für meine Kinder." "Ich wünsche, ich könnte meinen Eltern sagen, dass ich schwul bin." "Es sind normale, menschliche Wünsche“, sagt Neuenschwander über „I wish your wish“ (2003). Jeder Besucher kann eines der mehr als 10.000 Bänder nehmen und im Gegenzug einen eigenen Wunsch hinterlassen, für die nächste Installation. Inspiriert ist dieses interaktive Werk von einem Brauch in der brasilianischen Pilgerkirche Nosso Senhor do Bonfim. Man kann davon ausgehen, dass bald unzählige New Yorker mit bunten Seidenbändern am Handgelenk durch die Straßen laufen - als Teil der beweglichen Landkarte eines Kunstwerkes, das immer wieder aufs Neue eine eigene Dynamik annimmt.

Welche Rolle spielt der Zufall in Ihrem Werk?

Rivane Neuenschwander: Ich versuche, so viel wie möglich zu kontrollieren, gleichzeitig möchte ich dem Zufall so viel Raum wie möglich geben. Da prallen zwei Konzepte aufeinander – deshalb muss ich lebendige, eigenständige Dinge kreieren. Mich interessiert vor allem, dass sich Dinge in einem permanenten Zustand der Transformation befinden. „Conversation“ ist sicher das Werk, in dem ich mich am radikalsten mit Kontrollverlust konfrontiert habe – ich hätte alles zerstören können, wenn ich diese Wanzen nicht rechtzeitig gefunden hätte. Aber genau darum ging es ja, ich musste mich meinem eigenen Spiel stellen.

Rivane Neuenschwander trägt ein orangefarbenes Kostüm, ihre braunen Haare sind zusammengebunden. Sie spricht leise und sieht etwas müde aus. Neuenschwanders Werke pendeln zwischen Leichtigkeit und Bedrohung - das ist Bestandteil des Menschseins, sagt sie. Ihre Videofilme berühren durch schlichte Ideen: Das Ei, das auf einem Löffel balanciert wird („The Fall“, 2009) oder die Seifenblase, die fragil und doch autark durch die leeren Räume eines Hauses schwebt ("The Tenant", 2010). „First Love“ (2010) ist eine weitere interaktive Arbeit: Besucher beschreiben einem Polizeizeichner die Gesichtszüge ihrer ersten Liebe – die Phantombilder vergangener und wiederentdeckter Gefühle sind Manifestationen der Möglichkeiten und Grenzen des vielschichtigen Prozesses unseres Erinnerungsvermögens und unserer Orientierungsfähigkeit.

Ihnen geht es um die Übersetzung und das Zusammenspiel von Denkprozessen – und um die Fallen, die dabei auf uns warten?
Rivane Neuenschwander: Vor allem meine Arbeit „First Love“ reflektiert diese Auseinandersetzung mit dem Übersetzungsprozess: Man muss seine Erinnerung aktivieren und sie dann in Sprache umsetzen, damit jemand anderes wiederum die Worte interpretiert und daraus eine Zeichnung fertigt. Hier sind viele verschiedene Ebenen von Sprache am Werk. Außerdem wird es letzten Endes von jemand anderem als mir gestaltet. Ich schaffe also nur den Rahmen für die Handlung von anderen.

Die Auseinandersetzung mit Gegensätzen bestimmt Ihr Schaffen ...
Ja, ich versuche Momente der Spannung und der Überraschung zu erzeugen. Spannung entsteht dann, wenn man die Natur der Dinge oder unserer eigenen Beschaffenheit verändert. Manchmal wünschte ich, die Spannung wäre drastischer, aber das bin nicht ich. Das Maximum an Gewalt, das ich bislang erreicht habe, ist mir in „Conversation“ gelungen. Aber letztlich ist es sehr ähnlich mit den Bändern. „I wish your wish“ mag sehr bunt sein und spielerisch wirken, aber die Wünsche, die auf den Bändern stehen, sind sehr intensiv und ernsthaft. Wünsche entstehen aus der Furcht vor etwas. Deshalb glaube ich, dass man bei vielen meiner Werke hinter die einfache, scheinbar sorglose Fassade blicken muss. Mir gefällt es, wenn Dinge formal schön aussehen, und dann bleibt es den Besuchern überlassen, ob sie bemerken, was hinter der Schönheit und hinter der Verspieltheit steckt.

Sie haben Erinnerung erwähnt, als Sie über "First Love" gesprochen haben – welche Rolle spielt Erinnerung ansonsten für Sie?
Ich denke, es gibt verschiedene Ebenen der Erinnerung und der, ja, Prägung - was ist eigentlich das Gegenteil von Erinnerung? Am offensichtlichsten handelt das Video über das Ei auf dem Löffel von Erinnerung, das ist ja ein Spiel aus der Kindheit. Oder die Seifenblase. Die Regeneimer kommen nicht von ganz so weit her – „Rain rains“ ist inspiriert von einer brasilianischen Alltäglichkeit: Wenn wir die starken tropischen Regenfälle haben, dann gibt es früher oder später immer irgendwo ein Leck an der Decke, durch das es hinein regnet, und dann stellt man eben einen Eimer darunter. Einmal, als die Installation in London war, kam ein Brasilianer vorbei und er sagte: Ich weiß nicht warum, aber ganz plötzlich habe ich Heimweh. Irgendwo hatte er die Erinnerung an die tropfende Decke abgespeichert, und mir wurde klar, dass das wahrscheinlich für alle Brasilianer gilt.

Sie sind eine gute Beobachterin menschlichen Verhaltens und der menschlichen Psyche.
Andere Menschen sind interessanter, als ich es bin. Ich mag das Exotische, das Andere, ich möchte haben, was mir nicht gehört. Ich wollte Anthropologin werden, als ich jung war, und wahrscheinlich mache ich das jetzt, nur auf eine andere Art und Weise.

Das Narrative ist immer wieder prägend für Neuenschwanders Werke. Erzählen, sagt sie, helfe ihr, die Fragmentierung unseres Lebens und seine konstanten Bedrohungen zu ertragen. Sie sagt das unter einer der Klappzahlenuhren, die Teil der titelgebenden Installation "A Day Like any Other" (2008) sind, und auf denen oft nur die Wochentage, aber niemals Uhrzeit und Datum angegeben sind.

Ein Tag wie jeder andere, aber dann eben auch nicht?
Rivane Neuenschwander: Die Idee kam mir, während ich mein jüngstes Kind stillte. Ich schaute auf die Uhr, und naja, es ist toll Kinder zu haben, aber es gibt diese Phase, in der man in dieser Kinderzeit verhaftet ist, man steckt fest idarin. Und ich dachte mir: Jede Sekunde ist wie die nächste Sekunde, aber nein, es ist niemals dieselbe Sekunde! Ich stellte mir vor, wenn in meinem Leben eine Tragödie passierte, dann wäre der nächste Tag eben nicht wie jeder andere, zumindest nicht für mich - aber für den großen Rest wäre er das schon: Ein Tag wie jeder andere.

Welcher auf diesen bunten Bändern ist Ihr Wunsch?
Es ist genau das: Dass ich hoffe, dass meine Kinder gesund bleiben und länger als ich leben – wenn man so will, drückt das meine Angst aus, dass ich sie verliere. ‚I wish your wish’ hört nie auf, es ist ein endloses Werk, das mag ich daran: Jedes Mal ist es anders, es ist ein kontinuierlicher Fluss – und das nächste Wunschpaket für die kommende Installation wird aus New Yorker Wünschen bestehen.

"Rivane Neuenschwander: A Day Like Any Other", bis 19.September 2010, New Museum, New York