Harald Falckenberg über Raymond Pettibon

"Lassen wir diese Schubladen"

Sammler Harald Falckenberg über die Kunst von Raymond Pettibon, die jetzt in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen ist

"I don’t love you anymore" steht über der Zeichnung eines sich innig küssenden Paares geschrieben. Der Schriftzug "1967 was the best year of my life, when I still had veins" überfängt das von Falten gezeichnete Gesicht einer Frau, die dabei ist, an einer Tube Klebstoff zu schnüffeln. In einer weiteren Arbeit richtet sich ein Mann auf dem Sterbebett liegend mit folgenden Worten an den anwesenden Geistlichen: "I don’t want a priest. If I’m going to confess my sins I want to see my son."

Provokante, scharfsinnige Zeichnungen machen den amerikanischen Künstler Raymond Pettibon Anfang der 80er-Jahre in der kalifornischen Undergroundszene bekannt. Neben politischen Cartoons entwirft Pettibon zu Beginn seines Schaffens vor allem Plattencover und Werbeplakate für Punkbands wie Black-Flag und Sonic Youth. Heute gilt Pettibon, dessen Arbeiten unter anderem auf der Documenta 11 gezeigt wurden, längst nicht mehr nur einer eingeschworenen Gruppe von Punk-Liebhabern als Kultfigur.

Am 27. Februar eröffnen die Deichtorhallen die bislang umfassendste Einzelschau zum Werk Raymond Pettibons in der Sammlung Falckenberg. Kuratiert wird die Ausstellung "Homo Americanus" von dem Kunsthistoriker Ulrich Loock. Harald Falckenberg, der seit den 90er-Jahren die Arbeit von Raymond Pettibon sammelt und intensiv mitverfolgt, hat gemeinsam mit dem Kurator die Begleitpublikation zur Ausstellung herausgegeben. Im Interview mit Monopol erklärt er, weshalb sich ein Freigeist wie Pettibon nicht von Regularien irgendeiner Szene vereinnahmen lässt und weswegen es für ihn keinen Widerspruch darstellt, als kommerziell erfolgreicher Jurist und Wirtschaftsunternehmer Kunst zu sammeln, die das System in dem er selbst agiert, kritisch hinterfragt.

Ende der 70er, Anfang der 80er-Jahre entwirft Pettibon Flyer und Plakate für diverse Punkbands. Seine frühen Arbeiten fallen in eine Zeit, die politisch von einem neuen Konservatismus geprägt ist. Reagan, Thatcher und Kohl sind an der Macht. Punk bot hierzu eine radikale Gegenkultur. Wie lässt sich Pettibons Verhältnis zum Punk beschreiben?
Pettibons Bruder Greg Ginn hat Ende der 70er die legendäre Punkband Black Flag gegründet, für die Pettibon die Werbeplakate und Cover gestaltet hat. Parallel zu Black Flag hat Ginn das kommerziell sehr erfolgreiche Plattenlabel SST-Records aufgebaut. Hier wurden Bands wie Sonic Youth produziert, für die Pettibon ebenfalls Cover entwarf. Pettibon war sozusagen der 'Public-Relations-Beauftragte' seines Bruders. So ganz gefiel ihm das offenbar nie und dafür gibt es Gründe. Einer davon ist sicherlich das kommerzielle Denken, das dem schnell zum Konzern avancierten Label seines Bruders zu Grunde lag. Geschäfte zu machen liegt einem Charakter wie Pettibon fern. Er verfolgt mit seiner Kunst andere Ziele. 1967 wurde "Der Tod des Autors" von Roland Barthes ins Englische übersetzt. Die theoretischen Ansätze der französischen Poststrukturalisten haben die nachfolgende Künstlergeneration stark beeinflusst. Sie wollten keine Künstlerfürsten mehr sein – eher Sozialarbeiter – fernab des kapitalistischen Kunstmarktes. Das gilt auch für Pettibon. Keinen Personenkult – kein Kommerz. Wenn man Pettibon nicht nur als Künstler, sondern auch als Menschen verstehen will, dann sind das Kernpunkte. Mitte der 80er-Jahre überwarf er sich dann mit seinem Bruder, die Zusammenarbeit war damit passé. 

In einem Interview mit dem "Guardian" macht Pettibon klar, dass ihm Punk zu dogmatisch und engstirnig wurde: "In Punk any intellectual curiosity was discouraged. [...] It was more about what you can’t do than what you can do."
Pettibon war klar beeinflusst von den Vertretern rebellischer Jugendbewegungen der USA, die versuchten, eine Parallelwelt, eine Alternativgesellschaft, aufzubauen. Hierbei meine ich die Hippiebewegung der 60er und die Punkbewegung der 70er und 80er. Allerdings ist Pettibon zu sehr Individualist und Intellektueller, um sich von den Regeln und Vorgaben einer Gruppierung stumpf vereinnahmen zu lassen. Sprüche wie "Legal-Illegal-Scheißegal" oder "Miet-Haie zu Fischstäbchen", wie wir sie aus der deutschen Punk-Szene der 80er kennen, sind eben nicht Pettibon. Er wollte sich nie einem Gruppenzwang unterwerfen, sondern vollkommen unabhängig bleiben, so wie auch seine Künstlerkollegen Mike Kelley und Paul McCarthy. Diese Einstellung, die Ablehnung geltender Konventionen – die Konventionen der Subkultur eingeschlossen – machte die Kunst dieser Tage an der Westküste Amerikas so stark. Fast die Hälfte der Ausstellungen zu Pettibons Arbeit tragen das Wort Punk im Titel. Diese Art der Vereinnahmung seines Œuvres ist zu kurz gedacht. Mehr noch, er hat diese geradezu verachtet, ja gehasst, und auf der Vielfalt seiner künstlerischen Ansätze bestanden.

Pettibon äußerte in einem Gespräch mit Ulrich Loock, dass er mit dem Mythos des glücklich zufriedenen, körbeflechtenden Hippie brechen will und aufzeigen möchte, dass die Zeit der Hippies nicht mit dem Summer of Love, sondern mit den Manson-Morden und dem Altamont-Festival endete.
Pettibon kann mit Klischees nichts anfangen. Er hat sich mit verschiedensten Alltagsproblemen und Phänomenen – stilistisch geprägt durch die West Coast Art – beschäftigt. Das heißt, mit Symbolen und Ästhetiken aus der Filmwelt, aus den Medien und das auf eine ganz andere Art als die Künstler seiner Zeit in New York. Ich sehe in seinen Arbeiten – und darin unterscheide ich mich von anderen Interpreten – nicht so sehr eine Abarbeitung von einzelnen Sachthemen, wie der Rubrik Politik, der Rubrik Hippie oder der Rubrik Eisenbahn. Vielmehr sehe ich einen ständigen Fluxus, eine ständige Bewegung. Genauso wenig wie er sich in seinen Aussagen von einer bestimmten Gruppierung vereinnahmen lässt, lässt sich sein Werk für mich von einzelnen, in Schubladen verstauten Themenbereichen vereinnahmen. Wenn Pettibon Kritik am FBI-Chef übt oder an Ronald Reagan, dann passiert das für mich nicht in der Kategorie "Politische Kritik". Ich glaube das einfach nicht. Seine Arbeit ist eher eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Paranoia der amerikanischen Welt, mit Themen die ihn aufgeregt und geärgert haben und die er sich von der Seele zeichnen und schreiben musste.

Der Künstler Pettibon in der Rolle des gesellschaftskritischen "Homo Americanus"?
Auch vor dem Label "Gesellschaftskritik" möchte ich ihn bewahren. Pettibon will mit seinen Arbeiten nicht belehren oder der Gesellschaft den Spiegel vorhalten – das kann schnell in den falschen Hals geraten. Er ist kein Berichterstatter. Er spielt als freier Künstler mit Phänomenen dieser Welt, das ist ein riesen Unterschied. Warum brauchen alle immer diese Patentformeln? Pettibon der "Punk-Künstler", Pettibon der "Gesellschaftskritiker". Wie soll man da jemandem erklären, dass er häufig auch Lokomotiven zeichnet? Das ist doch nicht Punk. Lassen wir diese Kategorien, diese Schubladen. 

Wie die Lokomotive, gibt es einige immer wiederkehrende Motive in Pettibons Werk. Beispielsweise die Comicfigur VAVOOM, die es vermag mit diesem einen Wort alles zum Einstürzten zu bringen, was sich ihr in den Weg stellt. Oder die Knetfigur Gumby, die zu Beginn der Kurzfilme wortwörtlich in ein Buch, also in eine bereits existierende Geschichte schlüpft, um dann in die jeweilige Dramaturgie einzugreifen und diese mit eigenen Abenteuern zu erweitern. In Gumby sieht Pettibon eine Metapher für sein eigenes Arbeiten: "Ich mache in gewisser Weise das Gleiche, die Geschichte beruht auf einem bereits vorhandenen Text. Es ist eher eine aktive Lektüre des Textes, denn man ändert die Dinge und bringt seine eigene Persönlichkeit rein." Seine Faszination für VAVOOM erklärt er mit der Projektionsfläche, die das Wort bietet und Freiraum für eigene Gedanken und Interpretationen schafft.
Pettibon ist ein assoziativer Denker. Sein Werk ist im ureigensten Sinne intuitiv, emotional, subjektiv und trotzdem überlegt und strukturalistisch angelegt. Ich sehe Pettibons riesigen Werkkomplex von tausenden Zeichnungen als einen Zusammenhang, eine Struktur. Nicht als Botschaft, sondern ein Netzwerk an Ideen. Wenn man das jetzt mal wahrnehmungspsychologisch betrachtet, lösen all die Eindrücke, die wir der Zeitung, dem letzten großen Baseballspiel, unseren Alltagsgesprächen und Erlebnissen entnehmen, biochemische und elektrische Reize aus, die das empfangene Bild mit anderen Bildern und Texten in Verbindung bringt. Im Kopf finden assoziative Vorgänge statt. Je länger man sich diesen Reizen der Politik, der Gesellschaft, der Medien aussetzt, je mehr geraten sie am Ende zu einer Struktur. Und so verstehe ich auch seine collagenhafte Arbeitsweise. Er verbindet seine Zeichnungen mit Textfragmenten, die selbst schon wieder ein Eigenleben bekommen. Die Reize, die Pettibon wahrnimmt und in seine Arbeiten überträgt, lösen beim Betrachter wieder ganz eigene Assoziationsketten aus. Diese Freiheit, die er für sich selbst in Anspruch nimmt, räumt er auch dem Betrachter ein. So kann jeder seine ganz eigenen Erfahrungen machen mit den Werken von Pettibon. In diesem Sinne ist seine Kunst eine interaktive Kunst. Wir müssen Pettibon nicht begreifen, aber begreifen ihn für uns selbst irgendwie doch. Dieses unverbindlich Verbindliche macht meiner Meinung nach das Genie seiner Kunst aus.

Gestatten Sie mir noch eine abschließende Frage. Neben Pettibon haben Sie Arbeiten von Paul McCarthy, Mike Kelley, Jason Rhoades aber auch von den deutschen "Jungen Wilden" wie Martin Kippenberger oder Werner Büttner erworben. Ein Schwerpunkt Ihrer Sammlung liegt auf systemkritischer Kunst, Kunst einer "Counter Culture". Als Jurist und kommerziell äußerst erfolgreicher Wirtschaftsunternehmer agieren Sie in einem System, das genau von diesen Künstlern kritisch hinterfragt wird. Wie ist das zusammen zu bringen?
Diese Frage ist recht einfach zu beantworten. Ich lehne es ab, mich mit Künstlern zu identifizieren, und ebenso lehnen es in der Regel auch die Künstler ab, sich mit dem Sammler zu identifizieren. Das sind bei aller Solidarität zwei Welten. Ich muss eine Distanz zur Kunst haben. Immer wieder bekomme ich zu hören: "Sie sind doch ganz begeistert von der Kunst". Da sage ich: "Ich bin alles andere als begeistert von der Kunst." Ich versuche über Kunst als Ausdruck unserer Gesellschaft nachzudenken, sie zu analysieren oder, wie in diesem Gespräch hier, mir einfach Gedanken zu machen über einen Künstler wie Pettibon. Dabei geht es auch um Selbstkritik. Schwärmen ist nicht meine Sache. Ich möchte frei sein in meiner Beschäftigung mit Kunst. Genau wie Pettibon will ich mich nicht in irgendwelche Schubladen pressen lassen. Aber was sollen wir über mich reden. Die erste große Ausstellung über Pettibon retrospektiven Charakters war meine fixe Idee und ich habe auch eine ganze Anzahl von Leihgaben besorgt. Aber das war es. Die Konzeption und Kuratierung der Ausstellung von Pettibon mit mehr als 1.000 Werken und Objekten seiner frühen Zeit der Zusammenarbeit mit seinem Bruder, haben der Intendant der Deichtorhallen Hamburg, Dirk Luckow und Ulrich Loock – Anhänger Pettibons der ersten Stunde – entwickelt und durchgeführt. Und es ist ein 600-seitiges eigenwilliges, aber gerade deshalb großartiges Buch zur Ausstellung – kein Katalog – entstanden. Ich freue mich schon sehr auf die Eröffnung, die mit Sicherheit neue Perspektiven auf das Werk Pettibons eröffnen wird. Also kommen die Leser dieser Zeilen bitte nach Hamburg und kaufen Sie das Buch! Auch ich bin Gast und bin sicher, Pettibon unter ganz neuen Aspekten kennen zu lernen.