Geta Brătescu in Hamburg

List und Linie

Courtesy of the artist, Galerie Barbara Weiss Berlin and Ivan Gallery Bucharest. Foto: Jens Ziehe
Courtesy of the artist, Galerie Barbara Weiss Berlin and Ivan Gallery Bucharest. Foto: Jens Ziehe

Geta Brătescu, "Ohne Titel", 2012

Eine Retrospektive in Hamburg feiert die 90-jährige rumänische Künstlerin Geta Brătescu

Eigentlich scheint alles in bester Ordnung. Im Gropiusbau ging im Juni eine erfolgreiche Schau von Isa Genzken zuende. Gülsün Karamustafa, die bedeutende türkische Gegenwartskünstlerin, wird noch am Hamburger Bahnhof gezeigt. Nimmt man die Berliner Schauen zum Maßstab, kann man sagen: diese Künstlerinnengeneration (Genzken: Jahrgang 1948, Karamustafa: Jahrgang 1946) hat viel erreicht.  Trotzdem darf man sich nichts vormachen: Frauen haben es immer noch schwer, sich auf dem Kunstmarkt durchzusetzen. Und mancher Mann macht es sich leicht mit Begründungen, warum das so ist: "Frauen malen nicht so gut. Das ist ein Fakt", behauptete Georg Baselitz Anfang 2013 im "Spiegel".

Nun hat Baselitz vielleicht nicht mitbekommen, dass die Malerei ihren Status als Königsdisziplin verloren hat. Und vielleicht gibt es auch deshalb nicht so viele Malerinnen, weil die Frauen gar nicht malen wollen. Geta Brătescu zum Beispiel, der die Hamburger Kunsthalle zurzeit eine großartige Retrospektive widmet, die erste außerhalb ihrer rumänischen Heimat übrigens. Fotografien, gefilmte Performances, Collagen mit Papier oder Stoff sind in der umfangreichen Ausstellung zu sehen. Nicht zu vergessen: Zeichnungen. Die Linie, sichtbar oder als Idee, zieht sich durch ihr Werk. Auch wenn es betont flächige Arbeiten gibt, etwa Papiercollagen, bei denen kräftige Farben durch weiße Pergamentlagen hindurchschimmern. Eine Art Malerei? Vielleicht. Sicher im Umgang mit Farben ist Brătescu allemal.

Doch im Grunde entwickelt sie ihre Welt aus der Linie. In der Galerie der Gegenwart, in der die Werke der inzwischen 90-jährigen Rumänin die ganze dritte Etage füllen, ist ein langes schwarzes Stoffband zu sehen. An die Wand gepinnt, scheint das in durchhängenden Bögen gegliederte Band eine fiktive Landkarte zu zeichnen. „Didona“ heißt das Werk, das Brătescu 2000 in Anlehnung an den Gründungsmythos von Karthago schuf: Dido, einer phönizische Prinzessin auf der Flucht, wurde am Golf von Tunis durch den Numidierkönig Iarbas so viel Land versprochen, wie sie mit einer Kuhhaut umspannen konnte. Darauf schnitt Dido das Leder in dünne Streifen, legte sie aneinander und markierte auf diese Weise ein großes Stück Land.

Land gewinnen, Denkräume eröffnen: "Didona" spiegelt die Situation der Künstlerin im Rumänien vor 1990. Wie ihre Künstlerkollegen Ion Grigorescu oder Eugenia Pop arbeitete Brătescu unter den erschwerten Bedingungen des Totalitarismus. 1949 musste sie ihr Studium – Kunst und Literatur, die sie immer als gleichwertig empfand – abbrechen, da sie aus der oberen Mittelschicht stammte. Ihre Eltern führten eine Apotheke, das entsprach im kommunistischen Rumänien einer "ungesunden soziale Herkunft". Brătescu, die sich mit Haut und Haar der Kunst verschrieben hatte, arrangierte sich mit dem System, trat der Künstlervereinigung UAP bei und arbeitete als Grafikerin des Magazins Secolul 20. 1969 konnte sie ihr Studium doch fortsetzen, schloss es 1971 ab.

1999 wurde sie mit einer großen Retrospektive im Nationalmuseum in Bukarest gefeiert, auf der Venedig-Biennale stellte sie 2013 aus. Nun die Schau in Hamburg, zum Neunzigsten. Mit der Ausstellung setzt die Kunsthalle ihre Reihe zu Künstlerinnen fort: Von Louise Bourgeois und Eva Hesse wurden bisher wenig bekannte Werkphasen gezeigt, während die 1994 in Caracas verstorbene Exil-Hamburgerin Gego vor der Retrospektive 2013/14 weitgehend unbekannt war. Das Werk Gertrud Louise Goldschmidts, wie Gego eigentlich hieß, lässt in seinen abstrakten Qualitäten durchaus mit dem von Brătescu vergleichen. Als gelernte Architektin zielte Gego mit ihren Skulpturen aus Draht oder Seilen allerdings auf raumgreifende Wirkungen. Ihrer rumänischen Kollegin ging es weniger um die physische Entfaltung ihrer Werke, mehr um konzeptuelles Denken.

Als begeisterte Leserin hat sich Brătescu immer wieder auf starke Figuren aus der Literatur bezogen, neben Dido waren es Goethes Faust oder Brechts Mutter Courage. Nicht zu vergessen: Medea. Die Verstoßene, die zur Rächerin und Mörderin ihrer eigenen Kinder wird, wurde zwischen 1975 und 1981 zum Subjekt einer Serie von Stoffarbeiten. Mit der Nähmaschine hat die  Künstlerin die verschiedenfarbigen Stoffteile nicht nur vernäht, sondern Linien damit gezeichnet. Die Stoffbilder wirken halb wie Insel-Topographien, halb wie Querschnitte eines Kopfes, "kein Porträt an sich", wie Brătescu sagte, deren Faszination für die flammende Extremistin in den bleiernen Jahren des Stalinismus nur zu verständlich erscheint.

Hier wie in handgenähten Werken stammen die Stoffreste von Kleidern ihrer verstorbenen Mutter. Das Gewebe wird zur Metapher persönlicher und überindividueller Geschichte. Kurz vor und nach dem Sturz Ceaușescus entstehen abstrakte Bahnen aus sich überlappenden Stoffbahnen – wie Blätter eines leeren Wandkalenders, der aus dem Leim gegangen ist, voll und schwer von Erinnerungen. Seit den 90er-Jahren schafft Brătescu viele serielle Werke, aus Papier, Seilstücken oder mit zeichnerischen Mitteln, in denen die Künstlerin bestimmte Formationen durchdekliniert und damit Zeit und Geschichte fühlbar macht.

Ihre abstrakte, letztlich anti-erzählerische Grundhaltung imprägniert auch Brătescus experimentelle Filme. "The Studio" (1978), bei dem ihr Kollege Ion Grigorescu die Kamera führte, zeigt das Atelier als Dreh- und Angelpunkt ihres künstlerischen Schaffens, ein privater Raum, wie Brătescus einmal gesagt hat, "den man immer bei sich trägt". Im Film erwacht die Künstlerin wie eine plötzlich beseelte Statue, bewegt sich zeichnend durchs Atelier, vermisst den Raum mit ihrem eigenen Körper, schließlich spielt sie clownesk mit Objekten herum. Narrenfreiheit. Man muss diesen Film ansehen, um zu begreifen, dass ein Studio mehr als ein Produktionsort sein kann. In einem repressiven System ist es eine Zone der Freiheit, ein Kraftzentrum. Brătescu begeisterte sich übrigens schon als Kind für Magnete und ihre unsichtbaren Kraftlinien. In einer Fotomontage von 1974 pflanzt sie Hufeisenmagnete in den öffentlichen Raum, verfasst im selben Jahr ein Manifest über den Magnetismus gesellschaftlicher Subversion. Sie veröffentlicht den Text aber erst nach 1989.

Sie war nie eine so politische Künstlerin wie etwa Gülsün Karamustafa. Ihre ganze Energie steckte Geta Brătescu in die Form ihrer ungegenständlichen Werke. Diese Energie strahlt in Hamburg von ihnen ab, in einer längst überfälligen, starken Soloschau.