Hamburger Bahnhof, Berlin

Rentiere blicken dich an

Sie haben es wirklich getan. Da sind Rentiere in der großen Halle des Hamburger Bahnhofs. Ausgewachsene, friedliche Tiere, die auf dem mit weichem Holzspan bedeckten Boden in zwei symmetrisch angelegten Gehegen entspannt hin und her flanieren, hier mal ein Maul voll Futter aus den runden Edelstahl-Futtertrögen nehmen, dort sich gegenseitig spielerisch anrempeln. Zwölf kastrierte Männchen sind es, aufgewachsen bei einem Züchter in Brandenburg, der sie von Geburt an an die Präsenz von Menschen gewöhnt hat. Weitere anwesende Tiere: Zwölf Kanarienvögel in zwei großen Volieren, die an einer riesigen Waage hängen; vier Mäuse, die in vier mit modernistischen Miniatur-Spielplätzen bestückten Schaukästen herumsausen; außerdem zwei Fliegen, die bei ihrer Fliegentätigkeit kontinuierlich gefilmt werden.

All diese Tiere haben ihren temporären Lebensraum in einem überaus eleganten Ausstellungsdesign mit weißen, symmetrischen Absperrungen und verspiegelten Pavillons zur versteckten Beobachtung. Außerdem gibt es eine runde, mit riesigen Pilz-Skulpturen besetzte Scheibe, die von den Rentieren gedreht werden kann, wenn sie sich ihr Geweih an den daran angebrachten Baumteilen scheuern: Höller nennt die Skulptur „Pilzuhr“. Und in der Mitte der ganzen Installation thront ein Aufbau mit einem Bett: Hier kann man zur ultimativen Tierbeobachtung  sogar übernachten.

Ein lebendiges Bild habe Carsten Höller mit „Soma“ schaffen wollen, sagte der Direktor der Nationalgalerie Udo Kittelmann bei der Präsentation der Ausstellung. Und das ist ihm mehr als gelungen. Allein für den Blick auf dieses einzigartige Tableau hat sich der Aufwand gelohnt. Carsten Höller führt hier seine umfassenden Erfahrungen mit großen Tier-Installationen sowie mit architektonischen Eingriffen zu einem Höhepunkt. Man traut schlicht seinen Augen nicht angesichts der surrealistischen Szenerie. Gleichzeitig schließt der Labor-Minimalismus, mit dem das Setting durchdesignt wurde, jeden Anflug von Kitsch-mit-Tieren aus. Schließlich handelt es sich hier um ein Experiment – zumindest leiht Carsten Höller, der studierte Agrarwissenschaftler, für die Schau einmal mehr die wissenschaftliche Struktur und Formensprache. 

„Soma“ ist der Suche nach dem gleichnamigen, mythischen Trank gewidmet: eine geheimnisvolle Substanz, die in hindustischen Schriften aus dem 2. Jahrtausend vor Christus besungen wird. Neuere Theorien besagen, dass der Fliegenpilz die entscheidende Substanz in diesem berauschenden Stoff gewesen sei, und zwar unter anderem in bereits von einem Organismus verarbeiteter Form, über den Urin – Rentierurin zum Beispiel, denn zu deren normalem Speiseplan gehört der Fliegenpilz.

So finden sich jetzt auch im Hamburger Bahnhof frische Fliegenpilze tiefgefroren in Kühlschränken, bereit, an die Rentiere verfüttert zu werden. Und auch Flaschen für den aufgefangenen Urin der Tiere stehen bereit. Werden die Rentiere jetzt wirklich von den Fliegenpilzen essen? Alle, oder nur die auf einer Seite des doppelt angelegten Geheges? Trinken die anderen Tiere oder auch irgendwelche menschlichen Versuchsobjekte das Urin? „Wir lassen die Sache im Unklaren – darauf bestehe ich“, antwortete Carsten Höller bei der Pressekonferenz. „Denn in der Unklarheit steckt ein großes Potential. Wir finden in dieser Ausstellung nicht wirklich das Soma, aber persönliche Erfahrung“.

Die Intensität dieser Erfahrung lässt sich noch steigern durch die Übernachtung in der Ausstellung selbst. In der Mitte der Gehege befindet sich ein erhöhtes Podest mit einem großen Bett: eine ideale Aussichtsplattform. Hier kann man die Nacht verbringen, den Rentieren beim Schlafen zuschauen und den Vögeln beim Träumen. Und vielleicht ganz für sich mehr erfahren über die transzendenten Wirkungen des Soma.

"Soma", Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 5. November bis 6. Februar

Übernachtungen können zum Preis von 1000 Euro pro Nacht gebucht werden. Eine Übernachtung pro Woche wird verlost: Teilnahmebedingungen unter www.somainberlin.org