Nach 70 Jahren

Von Nazis geraubte Bücher der Hertie-Familie entdeckt

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Die wertvolle Bibliothek der Kaufhaus-Dynastie galt seit Kriegsende als verschollen. Bei Recherchen konnten nun Teile der Sammlung in Bautzen gefunden werden. Doch es bleiben Fragen offen

Mit detektivischem Spürsinn hat Wissenschaftler Robert Langer knapp 500 bisher verschollene Bücher der jüdischen Unternehmerfamilie Edith und Georg Tietz in der Stadtbibliothek Bautzen entdeckt. Aufmerksam wurde der Philosoph bei Recherchen zu NS-Raubgut durch den Namensstempel "Hans Herrmann Tietz – Berlin-Grundwald – Königsallee 77 in einer "Hebräischen Lesefibel". "Auf einmal waren wir so auf der Spur der Kaufhausfamilie Hertie", sagte Langer bei der Präsentation der Sammlung am Montag.

Aufgefallen war ihm schon länger, dass sich in der kommunalen Einrichtung viele Bücher mit jüdischen Themen befanden. "Das konnten keine Exemplare sein, die den Nationalsozialismus hier im Haus überdauert hatten. Sie wurden alle aussortiert", sagte Langer. Parallel wertete er bereits vorhandene Forschungen zur Geschichte der Kaufhaus-Familie aus. Sie beschreibt unter anderem, wie die "Büchersammlung Tietz" in die Hände der Nazis kam.

Die Firma der Nachfahren der "Hermann Tietz & Co. Warenhäuser" (Hertie) wurde nach Hitlers Machtübernahme 1933 arisiert und die Brüder Georg und Martin Tietz und deren Schwager Hugo Zwillenberg 1934 aus dem Unternehmen gedrängt. Nach der Emigration der Familien wurde deren Besitz beschlagnahmt und verkauft. Die Bibliothek des Ehepaares Edith und Georg Tietz erwarb 1944 die Reichstauschstelle. "Ihr Wert wurde auf 20 000 Reichsmark geschätzt", sagte Langer. Soweit bekannt ist, sollen die 4500 Bände, darunter seltene kunsthistorische Drucke, in 30 Kisten auf Gut Drehsa im Kreis Bautzen gebracht worden sein.

Mit Kriegsende verliert sich die Spur der Privatbibliothek. "Bisher ging man davon aus, dass die Bücher als Beutegut verloren gegangen sind", sagte Langer.

Er ist seit Mai 2014 Projektleiter zur Raubgut-Forschung in der Bibliothek. Unterstützt wird das Forschungsvorhaben durch die Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste (DZK). Sechs Bücher konnten er und seine Mitarbeiter bislang identifizieren. Mit dem neuen Fund ließe sich erahnen, wie viele Bücher im Nationalsozialismus unrechtmäßig in Bibliotheken gekommen seien.

Die Stadtbibliothek Bautzen ist nach Angaben des DZK die erste kommunale Einrichtung, die Herkunftsforschung betreibt. "Die Kommunen sind genauso wie die Länder und der Bund verpflichtet, NS-Raubgut zu identifizieren. Es gibt in Deutschland noch Tausende Bibliotheken wie das Bautzener Haus mit ähnlichen Verdachtsmomenten", sagte Uwe Hartmann vom DZK. Spätestens 2017 würden deshalb erfahrene Provenienzforscher auf kleinere Einrichtungen zuerst in Sachsen-Anhalt zukommen, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Kommunale Bibliotheken in weiteren Bundesländern sollen folgen. Aufgabe des DZK ist es, Museen, Bibliotheken und Archive bei der Identifizierung von Kulturgütern in ihren Beständen zu helfen, die während der Zeit des Nationalsozialismus den rechtmäßigen Eigentümern entzogen wurden.

Bücher aus NS-Raubgut sind nicht leicht zu identifizieren. "Oftmals fehlen die Herkunftsmerkmale, wie Etiketten oder Stempel. Im Bautzener Fall werden sie wohl 1946 beseitigt worden sein, als man alle Eingangsbücher neu erstellte", sagte Langer. So fand er zum Beispiel unter einklebten Leihzetteln die Initialen "ETG" – Edith und Georg Tietz. Insgesamt durchsucht er über 80 000 Bücher im Bautzener Altbestand.

Wie die Sammlung Tietz in die Bibliothek kam, ist noch nicht geklärt. Dazu ist ein weiteres Forschungsprojekt beim DZK beantragt.