„Es flutscht und brummt“

Im Sommer will das Kunstmuseum Bonn die alte und neue Vitalität des Rheinlandes bekräftigen: Künstler und Künstlerinnen wie Rosemarie Trockel, Jürgen Klauke, Andreas Gursky oder Sie, Herr Cragg, haben dafür Jüngere vorgeschlagen, die mit Ihnen gemeinsam ausstellen werden. Formuliert der Ausstellungstitel „Der Westen leuchtet“ eine Sehnsucht nach der glorreichen Zeit der rheinischen Region?
tony cragg: Nostalgie ist es nicht, dafür sind wir zu zeitgemäß und zu aktiv. Trotzdem hoffe ich natürlich, dass das Rheinland sich nicht unnötig einen Provinzkomplex einredet. Die wichtigen Museen, Institutionen, Kultureinrichtungen und Künstler befinden sich hier und nicht woanders – egal, wie viele Leute nach Berlin rennen.
gereon krebber: Mich hat die Kontinuität der Region überzeugt. Alles, was sich ein Künstler wünscht, ist in einer einzigartigen Dichte vorhanden.

Wo liegen die Besonderheiten?
cragg: Zunächst die schiere Größe, 20 Millionen Menschen leben dicht beieinander. Dazu kommt die 100-jährige Tradition der Kunsthallen und Kunstvereine. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auch das Fundament für eine kulturell neue Gesellschaft gelegt. Als ich 1977 aus London zum ersten Mal hierherkam, staunte ich, wie viele Menschen sich für zeitgenössische Kunst interessierten und in Museen gingen. Und wie darüber gesprochen wurde! In Düsseldorf waren wir in einer Kneipe, und neben uns fingen zwei Männer einen lauten Streit an. Mein Deutsch war zu schlecht, aber mein Freund sagte mir: „Der eine ist pro Beuys und der andere kontra.“ In England wäre damals eine solche Kontroverse nur über Fußball möglich gewesen. Außerdem hätte man nicht argumentiert, sondern gleich zugeschlagen.

Nach einem Zwischenstopp in Berlin unterrichten Sie wieder Bildhauerei in Düsseldorf, Ihren Erstwohnsitz haben Sie seit 30 Jahren in Wuppertal.
cragg: Ich bin damals wegen meiner ersten Frau in die Stadt gekommen und hatte relativ früh auch eine Verbindung zur Düsseldorfer Konrad-Fischer-Galerie, die großartige Sammlungen von Gerhard Richter, den Bechers, Hanne Darboven oder Richard Long besaß. So begegnete ich vielen Künstlern, die ich von früher kannte, wieder.

Wie sehr identifizieren Sie sich, Herr Krebber, mit der Tradition hier? Sie leben in Köln, verbrachten aber einige Zeit in London. War Ihnen das Rheinland nicht genug?
krebber: Nach dem Studium reichte mir der Düsseldorfer Duft des Wohlstands.
cragg: Du warst lange nicht hier, Junge.
krebber: Ich hatte den Eindruck, dass meine Form von Kunst stark von Cragg und anderen Protagonisten der englischen Szene beeinflusst war, da bot sich ein Zweitstudium am Royal College of Art an. Zum Leben war mir London aber zu teuer und das Rheinland dann automatisch die erste Anlaufstelle.

Zwischen Ihnen bestand einige Zeit ein Lehrer- Schüler-Verhältnis. Wie funktioniert Wissensvermittlung in einer Kunstinstitution heute?
krebber: Wer einen so großen Künstler vor sich hat, schaut anfangs zu, wie der es macht. Ich fing als Zeichner an und habe dann zum ersten Mal Gips in die Hände bekommen. Das war wie ein Jungfernflug, Straucheln und Taumeln. Schließlich hat Cragg mir die Augen geöffnet – schau mal, was alles möglich ist! Das implizite Wissen entscheidet, du wirst neidisch auf die Bandbreite, die Tiefe, die Lust und Energie – und willst es genauer studieren.
cragg: Die Leute erwarten etwas von der Kunst, spüren eine Notwendigkeit. Manchmal ist das ein Trugbild, aber auch das stellen sie oft erst in der Auseinandersetzung mit der Klasse fest. Es beginnt damit, dass sich die Studenten in Konkurrenz gegeneinander Räume verdienen müssen. Wenn sie nichts tun, haben sie keinen. Tun sie viel, haben sie größere. Falls es gleich eine Maschinenhalle sein muss, kommt schnell ein Korrektiv.

„Bildhauerei ist zurzeit die dynamischste Kunstform überhaupt. Alles, was wir im Kopf haben, müssen wir aus der physischen Welt herausholen: Temperaturen, Wärme, Farben, Geräusche. Das zu verarbeiten, Erlebnisse und Strukturen in Mathematik oder abstraktes Denken zu transportieren — darum geht es“ tony cragg

Sie sind beide Bildhauer, also fast altmodisch.
cragg: Was für ein Unsinn! Die Bildhauerei ist zurzeit die dynamischste Kunstform überhaupt. Alles, was wir im Kopf haben, müssen wir aus der physischen Welt herausholen: Temperaturen, Wärme, Farben, Geräusche. Das zu verarbeiten, Erlebnisse und Strukturen in Mathematik oder abstraktes Denken zu transportieren – darum geht es in der Bildhauerei. Gerade in den vergangenen 100 Jahren hat sie sich enorm entwickelt, es flutscht und brummt und hat nichts Statisches! Material ist natürlich alles, so kompliziert und so erhaben, dass man gar nicht genug davon lernen kann. Jetzt haben Sie mich aber auf die Palme gebracht!
krebber: Gerade hatte ich einen Flashback. Dieses Missionarische, diesen Eifer, diese Radikalität habe ich noch gut in Erinnerung.

Was haben Sie noch von Tony Cragg mitgenommen?

krebber: Das enorme Wissen, was den Umgang mit Material betrifft. Den Forscherdrang, die Form über eine Auseinandersetzung zu suchen.

War der Lernprozess wechselseitig?

cragg: Eine solche Beziehung erstreckt sich über einen langen Zeitraum. Da nimmt man natürlich etwas mit. Als ich anfing, war ich 28 und die Studenten oft älter. Wir waren wie Freunde, mit vielen aus den ersten Lehrjahren habe ich heute noch zu tun. Jetzt, mit 60, ist es ein Privileg, zu erfahren, womit junge Leute sich befassen.

„Ich suche eher die Freiheit von narrativen Belastungen, um ein Gefühl zu erwecken, das man nicht begrifflich fassen kann. Ich baue zwiespältige Stimmungen ein, und der Humor fungiert dann als Ventil und Erleichterung. Dabei bin ich selbst von Natur aus recht humorfrei“ gereon krebber

Woran machen Sie gute Bildhauerei heute fest?
cragg: Die Definition wird ständig erneuert. Es geht auf jeden Fall nicht mehr darum, ein Material zu finden, das noch nicht in der Kunstgeschichte verwendet wurde. Konzeptuelle und territoriale Strategien sind spannend, haben aber immer etwas Dekoratives und gehen Richtung Innenausstattung. Ich bin jemand, der im Atelier arbeitet. Wenn die Außenwelt nicht dafür bereit ist, was dort entsteht, habe ich eben Pech eben gehabt.
krebber: Ich habe einen anderen Ansatz. Ein Kriterium ist, ob mich die Kunst berührt. Das Begriffliche hängt da hinterher. Ich agiere durchaus territorial. Für die Ausstellung im Kunstmuseum Bonn nehme ich den Raum als Gegebenheit sehr genau wahr – und auch als Chance, eine größere architektonische Form aufzugreifen.
cragg: Vieles ähnelt heute Assemblagen. Dinge werden aneinandermontiert, früher hätte man gesagt: gebastelt. Ein Stuhl mit einer orangefarbenen Flagge und auf der ein Specht – das interessiert mich nicht. Eine neue Form zu finden, auch für Dinge, die wir nicht sehen, für Moleküle und Viren, ist spannend. Wir leben in einer Welt, in der das Nützlichkeitsdenken der Wirtschaft dominiert, in der es eine Formverarmung gibt. Überall nur flache Flächen und 90 Grad, alle Städte sehen gleich aus, und die Monokulturen in der Natur. Die Bildhauerei ist der einzige Bereich, in dem man einen neuen Umgang mit Material erlebt, sie hat mit Design, das immer einen Rezipienten braucht, gar nichts zu tun. Großartig! Unsere Aufgabe besteht auch darin, zu sehen, was es noch geben kann. Freilich können das nicht alle tun, sonst würde der Raum mit verrückten, nutzlosen Dingen zuwachsen.

Beherrschen Sie das Material, oder kontrolliert es Sie im Prozess der Gestaltung?

cragg: Beides.
krebber: Es gibt schon den Moment der künstlerischen Gewalt.
cragg: Man sieht eher die Gewalt am Stoff, egal ob sie gewollt war. Ich bringe immer das Beispiel von den zehn Kilo ausgegrabenem Ton. Der interessiert nur einen Chemiker oder Geologen. Dann steht ein Bildhauer davor und erschaudert, weil jede seiner Unzulänglichkeiten und Fehler sich in dem Klumpen widerspiegeln wird.
krebber: Ton ist aber auch hysterisch.
cragg: Nach einer Stunde bessert sich die Lage, die Gefühle und Ideen ändern sich, und in diesem Dialog entsteht etwas. Da kann man nicht sagen, dass irgendjemand etwas beherrscht.

Herr Krebber, Sie haben mal gesagt, Sie liebten „banale Materialien und Themen“. Wie hilfreich ist Humor, damit es nicht zu banal wird?

krebber: Ich suche eher die Freiheit von narrativen Belastungen, um ein Gefühl zu erwecken, das man nicht begrifflich fassen kann. Ich baue zwiespältige Stimmungen ein, und der Humor fungiert dann als Ventil und Erleichterung. Dabei bin ich selbst von Natur aus recht humorfrei.
cragg: Für mich ist Humor oft eine Verlegenheitsgeste gegenüber dem Fremden, eine Variante von Angst.

Junge Künstler haben heute starke Berührungsängste mit der Politik. Geht da ein Generationengraben zwischen Ihnen auf?
krebber: Auf jeden Fall. Ich glaube, der Traum, politisch eine Wirkung zu haben, ist ziemlich verpufft. Dennoch möchte auch ich andere Möglichkeiten anbieten. Aber keine utopischen Momente mehr, dafür ist meine Generation zu desillusioniert.
cragg: Ich sehe das anders. Wir neigen dazu, die Verantwortung für den Zustand der Welt zu delegieren. Mutter Natur wird diesen ganzen Mist aufräumen, oder Gott bringt’s in Ordnung. Auch wenn sich manche Lösungen unserer Intelligenz entziehen, sollten wir nicht die einfacheren wählen. Ob Stadtentwicklung, Gesellschaftsmodell oder Bildungssystem – wir sollten Mut zum Wandel haben. Wir existieren in einem Zeitkontinuum, und die Frage ist, wie wir dieses strukturieren wollen. Das erscheint mir unheimlich politisch.
krebber: Ich argumentiere nicht mit Begriffen wie Verantwortung. Ich fühle mich schlicht nicht zuständig, die Welt zu retten.
cragg: Du willst aber bestimmt die Zukunft nicht nur Politikern und Geschäftsleuten überlassen! Wenn schon Gentechnologie, dann wollen wir auch mitbestimmen, wie die Viecher aussehen.