Sasha Grey im Interview

„Ich habe mich immer als Performance-Künstlerin gesehen“

Welche Gefühle rufen Kunstwerke bei Ihnen hervor?
„Das rote Atelier“ von Henri Matisse ist mein Lieblingsbild. Ich habe es immer wieder in Büchern gesehen, und es hat mir gefallen, aber mich nicht weiter berührt. Bis ich im MoMA davorstand. Ich konnte seiner Schönheit für Stunden nicht entkommen. Es hat mich gefesselt. Ich habe immer wieder etwas Neues in dem Bild gefunden.

Und wie sind Ihre Erfahrungen mit der Gegenwartskunst bisher?
2009 habe ich in Brody Condons „Case“ gespielt, einer Performance am New Museum in New York. Die Aufführung ist eine Adaption von William Gibsons Cyberpunk-Roman „Neuromancer“. Es haben insgesamt 20 Schauspieler mitgewirkt, wir mussten ausdruckslos lesen, während um uns herum abstrakte Objekte durch den Raum schwebten. Ungefähr nach der Hälfte der Performance stellte sich bei mir ein Hochgefühl ein, das man nicht mit Drogen herbeiführen kann. Ich habe mich gleichzeitig verbunden und total abgetrennt von der Welt gefühlt.

Was macht gute Kunst für Sie aus, was muss sie beim Betrachter auslösen?
Ich mag Kunst, von der ich lernen kann und die mir gleichzeitig hilft, dem Alltag zu entfliehen. Natürlich ist Eskapismus allein keine Kunst. Kunst sollte den Intellekt und Gefühle provozieren. Sie kann einem helfen, als Individuum, als Mensch zu wachsen. Auch meine Performances in den vielen Pornofilmen, in denen ich gespielt habe, haben Perspektiven verändert und Leute inspiriert.

Haben Sie sich gleich zu Beginn Ihrer Karriere als Pornodarstellerin auch als Künstlerin verstanden?

Ich habe versucht, meine Rolle immer jenseits der üblichen Konventionen anzugehen, die mir vorgegeben waren. Also ja, ich habe mich von Anfang an als Performancekünstlerin gesehen.

Kannten Sie damals Künstler wie Cosey Fanni Tutti oder Marina Abramović?

Ja. Ich war ein Fan von Cosey Fanni Tutti am Anfang vor allem wegen der Band Throbbing Gristle. Performancekunst ist eine Gattung, auf die oft herabgeschaut wird. Sie ist schwer zu fassen, weil es so viele Ansätze gibt, wie man sie definieren soll. Als ich anfing, meine Rollen in Pornofilmen als Kunst zu deklarieren, kam der Vergleich mit Cosey Fanni Tutti auf. Das war natürlich eine Ehre. Sie hatte einen großen Einfluss auf mich, was Musik angeht, und ist mein Vorbild darin, wie man eine postmoderne weibliche Sexualität definieren kann. Auf Marina Abramovi wurde ich erst relativ spät aufmerksam.

Sie haben nun mit „Neü Sex“ einen Bildband über Ihr Leben herausgebracht. Die meisten Fotos haben Sie selbst gemacht, viele sind Selbstporträts. Wie kamen Sie auf die Idee zu dem Buch?
Ich habe mich selber auf meinen Sets fotografiert. Meinem Agenten fiel das auf. Nach etwa einem Jahr schlug er mir vor, aus den Bildern etwas zu machen. Ich habe lange darüber nachgedacht. Für mich war klar: Wenn die Fotos als Buch veröffentlicht werden, dann sollte eine Ästhetik erkennbar werden.

Viele der Bilder zeigen private Szenen, Zwischenmomente. Als Pornodarstellerin hatten Sie keine Kontrolle über die Bilder, die von Ihnen entstanden sind. Ist Ihr Buch ein Versuch, die Kontrolle zurückzubekommen?
In den Pornofilmen hatte ich immer die Kontrolle darüber, was sexuell ablief und mit wem, aber nicht über meinen Look und die grundlegende Storyline. Natürlich habe ich die Bilder in dem Buch so fotografiert und angeordnet, dass sie mir entsprechen, aber ich will auch nicht zu viel vorgeben und schreibe nicht über jedes einzelne Foto etwas. Der Betrachter soll schon Raum haben, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Ich lege keinen großen Wert auf Eindeutigkeit: Manche Fotos wirken, als seien sie dokumentarisch, sind es aber nicht. Andere verstören, aber ich finde sie schön.

Glauben Sie, dass die Kunstwelt und die Pornoindustrie in gewisser Weise vergleichbar sind?
Beide sind Systeme, die auf Sammler oder Konsumenten angewiesen sind. Beide Systeme sind ziemlich schnell darin, neue Strömungen in der Gesellschaft aufzuspüren, sie sich anzueignen und auf sie zu reagieren. Noch interessanter vielleicht: Beide Gattungen wurden durch das Internet stark verunsichert. Ich kann ein Kunstwerk natürlich niemals auf dem Computerbildschirm, in einer stark komprimierten Fassung im Internet, so wertschätzen wie in einer angemessenen Präsentation in einer Galerie oder einem Museum. So ähnlich gilt das auch für Pornofilme, und trotzdem werden Kunst und Pornografie am meisten auf dem Computer angesehen.  

Sasha Grey „Neü Sex“. Heyne Verlag, 192 Seiten, 19,99 Euro, ab 26. September

Ausstellung zu „Neü Sex“ anlässlich des Bodies of Babel"-Festival, Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt, vom 29. September bis 1. Oktober