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1 Glosse über sachliche Ausstellungstitel

Aus den Ausstellungstiteln ist die Fantasie verschwunden – geblieben ist Exaktheit: Das Kunstwerk "Markierung Glaslager" (2003/2004) von Kuehn Malvezzi vor der Berlinischen Galerie, ein Museum, das viele seiner Ausstellungen ganz nüchtern benennt
Foto: © Noshe, courtesy Berlinische Galerie

Aus den Ausstellungstiteln ist die Fantasie verschwunden – geblieben ist Exaktheit: Das Kunstwerk "Markierung Glaslager" (2003/2004) von Kuehn Malvezzi vor der Berlinischen Galerie, ein Museum, das viele seiner Ausstellungen ganz trocken benennt

Früher hießen Ausstellungen "Die Kunst ist super" oder "Tanz auf dem Vulkan". Heute klingen die Titel wie Lieferscheine, es dominieren Zahlen und nüchterne Präzision. Was es mit Minimalformeln wie "100 Jahre - 100 Objekte" auf sich hat

Die Moderne war sachlich und präzise, Ornament ein Verbrechen und Distanz eine Tugend. Daher ist es kaum verwunderlich, dass ein nach dieser Epoche benanntes Museum seinen Ausstellungen nüchterne Titel verpasst. Drei aktuelle Schauen in der Pinakothek der Moderne: "4 Museen - 1 Moderne", "100 Jahre - 100 Objekte" und – korrekter geht es nicht – "Gerhard Richter. 81 Zeichnungen, 1 Strip Bild, 1 Edition". Doch das Münchner Haus ist nicht das einzige hyperakkurate Museum. Nach 100 Jahren Neue Sachlichkeit treten wir ein in eine Ära der Neuen Neuen Sachlichkeit, in der Ausstellungstitel klingen wie Lieferscheine. Statt Pathos: Punktgenauigkeit. Statt Sinnlichkeit: Stückzahlen.

Es scheint, als hätten Kuratorinnen und Kuratoren einen Excel-Fetisch entwickelt. Sie lieben es, aufzuzählen, abzuzählen, nachzuzählen. Man wähnt sich nicht in einem Kunsttempel, sondern in einer Lagerhalle, wenn man solche Titel liest: "70 Jahre, 70 Bilder" und "100 Werke für Berlin" (Neue Nationalgalerie); "21x21" (Ruhr Kunst Museen); "100 x Berlin" (Kommunale Galerie Berlin); "100 Jahre / 100 Funde" (LWL-Archäologie für Westfalen). Da klingt es schon fast hysterisch, wenn die Berlinische Galerie "200 Meisterwerke aus internationalen Sammlungen" anpreist. Meisterwerke - oh mein Gott! Und geradezu schluderig wirkt die Überschrift über einer aktuellen Sammlungspräsentation des Kunstmuseum Gelsenkirchen: "Das alles haben wir".

Vorbei die Zeiten, in denen Ausstellungen noch "Im Rausch der Farben", "Tanz auf dem Vulkan" oder "Die Kunst ist super" hießen. Der Vorteil der Neuen Neuen Sachlichkeit: Man weiß, was man bekommt. Keine Überraschung, kein metaphorisches Herumlavieren. Kein "Licht und Schatten einer Stadt", sondern "Kunst in Berlin. 1880 – 1980" (Berlinische Galerie). Kein "Der Erfinder der Neuen Frau", sondern "Umbo. Fotograf. Werke 1926 – 1956" (Berlinische Galerie).

Wo bleibt die Magie?

Aber wo bleibt die Magie? Die Irritation? Die Versuchung? Der Titel, der etwas verspricht, das die Kunst dann bricht? Stattdessen gibt es 49 Unterhosen und 12 gestapelte Bauklötze. Was kommt als Nächstes? "Renaissance. 25 Gemälde, 9 Köpfe, 1 gekrönt." Oder: "MALEREI. 54 Positionen 1980–2020. 27 Künstler*innen. Kein Kommentar." 

Vielleicht geht es darum, ganz das Material sprechen zu lassen und es nicht vorab semantisch zu umhüllen, darum, dass das Publikum sich nicht erst durch einen Nebel generischer Floskeln kämpfen muss, um bis zur Essenz der Kunst vorzudringen. Kann sein, dass zu einigen Epochen, Künstlern, Bewegungen alles gesagt ist. "70 Jahre, 70 Bilder" als Titel einer Isa-Genzken-Schau klingt nach echter Klassikerin, wie in Marmor gemeißelt. Doch wirken die trockenen Ziffern nicht doch auch überwältigend, regelrecht marktschreierisch? Nicht 67, sondern ganze 70 Werke, alle Achtung! Nehmen wir uns lieber den verstorbenen Künstler Hans-Peter Feldmann zum Vorbild. Er nannte jede seiner Ausstellungen einfach: "Kunstausstellung".