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10 Kunstfilme, die sich im November lohnen

Ein Fotograf im Exil, die Kunstfigur Peaches in ihrem Element und die Haftbefehl-Doku, über die alle reden: Das sind unsere Filmtipps des Monats


Die Architektur und die Schönheit der Zerstörung

Es sind Bilder, die man nicht aus dem Kopf kriegt: Irgendwo in den Bergen ruckelt es im Gestein. Kiesel werden zu Geröll, Felsen zerbrechen, eine Lawine entsteht, eine wabernde Masse aus Granitbrocken und Erdreich stürzt eine gefühlte Ewigkeit lang hinab. Was für schrecklich-schöne Szenen!

Es gibt viele davon in dem nicht nur atemberaubenden, sondern auch klugen Film "Architecton" von Victor Kossakovsky. Der visuelle Essay über Natur, Raubbau, Beton, gute und schlechte Architektur und nicht zuletzt über die notwendige Neuorientierung der Menschen kommt ohne Off-Kommentar und mit sehr wenigen Worten aus. Der Schwerpunkt liegt ohnehin auf Naturaufnahmen, auf Bildern antiker Ruinen und moderner Architektur. Auf ungewöhnliche Art ist der Film dennoch auch das Porträt eines Architekten, des Italieners Michele De Lucchi, der die Tempelanlagen im libanesischen Baalbek besucht und in seinem Garten in der Lombardei einen Steinkreis anlegen lässt, dessen Inneres fortan kein Mensch mehr betreten soll.

"Architecton" – gemeint ist der Chef und Mastermind der Architekten, vielleicht auch der Schöpfer des Universums – endet (dann doch) mit einem Gespräch zwischen Kossakovsky und De Lucchi, in dem der italienische Architekt seine Beschämung darüber äußert, so viele Wolkenkratzer in die Welt gesetzt zu haben. Beton ist nach dem Wasser das Material, das Menschen am zweithäufigsten einsetzen, wie wir erfahren … Und: Betonbauten stehen maximal 40 Jahre, danach werden sie abgerissen. 

Einige Säulen in Baalbek stehen immer noch, die Tempelanlagen sind das Gegenbild zur Ressourcenverschwendung unserer Zeit. Gezeigt werden aber auch Burgreste und Steinbögen, die noch zwei Jahrtausende älter sind.

Ansonsten zieht sich eine Spur der Verwüstung durch das Werk, angefangen mit Drohnenflügen durch von Putins Raketen verheerte Siedlungen in der Ukraine. Bagger reißen Reste der schlecht gebauten Wohnhäuser in der Region Kahramanmaras in der Türkei ab, die vor rund eineinhalb Jahren von einem heftigen Erdbeben zerstört wurde. Und wir sehen Sprengungen in einem Abbaugebiet, dessen Terrassenstruktur wie eine Anti-Architektur erscheint. 

In einer Steinmühle werden riesige Brocken zermahlen, zum körnigen Material, das für Beton gebraucht wird. "Ich hasse Beton", sagt Michele De Lucchi, der Architekt, der ein Umdenken fordert, einen radikalen Paradigmenwechsel im Verhältnis Mensch und Umwelt. "Architecton" trifft den Nerv der Zeit.

"Architecton", Neue Visionen Plus und andere Streamingdienste

"Architecton", Filmstill, 2024
Foto: Neue Visionen

"Architecton", Filmstill, 2024


Die Kunst, das Leben, die Liebe

Julie will keine strebsame Medizinstudentin mehr sein. Zuerst wechselt die sprunghafte Norwegerin in die Psychologie - und trifft dort vor allem auf langweilige Musterschülerinnen mit Beinahe-Essstörung (und einen flirtenden Dozenten). Dann kauft sie sich eine Kamera und will ein Künstlerinnen-Leben führen. Dieses führt sie zu Aksel, einem Comiczeichner, der mit seinen Bänden über den anarchischen Luchs Gaupe einen gewissen Kultstatus bei seiner Leserschaft erreicht hat - und zuweilen des Sexismus in seinen Geschichten beschuldigt wird. 

Aksel scheint zu wissen, was er will: Am Zeichentisch in seiner Arbeit versinken und mit Julie eine Familie gründen. Doch die ist nicht bereit, sich ganz auf etwas einzulassen und will weiter testen, was das Leben sonst noch für sie bereithält. Auf einer Hochzeit, auf die sie sich spontan selbst einlädt, lernt sie den jüngeren Eivind kennen und will schon wieder ganz neu anfangen.

"Der schlimmste Mensch der Welt" (auf wen sich der Titel bezieht, kann sich die Zuschauerin selbst zusammenreimen) ist Teil der "Oslo-Trilogie" von Regisseur Joachim Trier. Darin behandelt er modernes Stadtleben in einem der reichsten Länder der Welt, wo materieller Wohlstand nicht unbedingt zu innerer Zufriedenheit führt. Themen wie Selbstzweifel, Krankheit, Selbstverwirklichung und die Volten der zeitgenössischen Millennial-Liebe ziehen sich durch die drei Teile. Und auch "Der schlimmste Mensch der Welt" dreht sich im Grunde um die Frage, was es für ein erfülltes Leben braucht.

Trier findet dafür bezaubernd klischeefreie Szenen und Bilder, in die ab und zu der magische Realismus einbricht (einmal bringt Julie die ganze Stadt zum Stillstand, um ihre Noch-Affäre Eivind zu treffen). Sein Blick auf die durchweg unperfekten Charaktere ist warm, aber auch skandinavisch lakonisch. Ihm gelingt ein leichtfüßiger Tonwechsel zwischen Komik und Tragik, der dem Film eine unwiderstehliche Dynamik verleiht. Außerdem werden beiläufig Fragen nach Kunstfreiheit und Verantwortung eingestreut. Sich eine Kamera zu kaufen, reicht jedenfalls nicht, um ein kreatives Leben zu führen.

"Der schlimmste Mensch der Welt", NDR-Mediathek, bis 12. November

"Der schlimmste Mensch dazu", Filmstill, 2021
Foto: Oslo Pictures

"Der schlimmste Mensch der Welt", Filmstill, 2021


Das Evangelium nach Peaches

The boys wanna be her! Die Kanadierin Merrill Nisker ist die Kunstfigur Peaches und performt seit über 20 Jahren für den female gaze. Der Film über ihre Jubiläumstour zum Album "Teaches of Peaches" war 2024 ein Favorit bei der Berlinale und gewann den Teddy Award der LGBTQI+-Community. Jetzt ist er in der Arte-Mediathek verfügbar.

Ihren Künstlernamen hat Peaches aus dem Nina-Simone-Song "Four Women" entlehnt, der sich um die Kämpfe und Probleme von Frauen dreht. Das setzt auch schon den Fokus für das zugehörige musikalische Werk. Sie singt über Sex, das Gefühl von Freiheit und die weibliche und queere Selbstbestimmung.

Zur Musik kam sie während ihrer Arbeit in einer Kindertagesstätte, wo sie mit den Kleinen musizierte. Ihre erste Band Mermaid Cafe trat mit Folksongs auf. Als sie davon die Schnauze voll hatte, lernte sie E-Gitarre und gründete eine eigene Band namens Fancypants Hoodlum. Anschließend wechselte sie zur Gruppe Spin the Susan und gründete schließlich Peaches and Gonzales.

Die Hälfte der Band – Gonzo und Peaches – ging 1997 nach Berlin und tauchte dort ins Nachtleben ein. Gemeinsame Auftritte organisierten die beiden, indem sie in Clubs gingen und fragten, ob sie ihre Minidisc anstöpseln könnten – erstaunlicherweise teilweise mit Erfolg. Nach einer schweren Trennung und Schilddrüsenkrebs kehrte Peaches zurück nach Toronto. Mit den Erfahrungen aus der Berliner Partyszene entstand im Jahr 2000 das Album "The Teaches of Peaches" in ihrem WG-Zimmer, ganz nach dem Motto "Do it Yourself". 2002 veröffentlichte sie eine längere Version des Werks mit dem heute ikonischen Song "Fuck The Pain Away".

Wieder in Berlin wurde viel gefeiert und weiter Musik gemacht. Ihre Kollegin Mignon blickt im Film auf die Zeit zurück. "We were definitely partying a lot". Sie ist damit nicht die einzige Wegbegleiterin von Peaches, die zu Wort kommt. Das experimentelle Porträt kombiniert exklusive Aufnahmen der "Teaches of Peaches Anniversary Tour" mit Archivmaterial und Interviews von Freundinnen und Freunden wie Gonzo oder Feist, Peaches’ Partner und Mitarbeiterinnen in ihrem Team, die für Licht, Ton oder das Styling verantwortlich sind.

Was fehlt, ist der Weg von den DIY-Untergrund-Auftritten, den Misserfolgen bei Shows wie "Top of the Pops" oder der Ablehnung durch große Plattenfirmen. Es bleibt unklar, wie diese "Heldinnenreise" ablief und warum wir Peaches heute als international bekannte Musikerin kennen. Tatsächlich tourte sie schon in den frühen 2000ern mit Stars wie Marilyn Manson oder Queens of the Stone Age und nahm Tracks mit Iggy Pop und Pink auf. Ihre Songs wurden als Soundtrack für etliche Filme und Serien genutzt. Wie es dazu kam, bleibt ohne Hintergrundinformationen etwas nebulös. Trotzdem ist "Teaches of Peaches" ein must watch.

"Teaches of Peaches", Arte-Mediathek, bis 7. Januar 2026

"The Teaches of Peaches", Filmstill, 2024
Foto: Farbfilm Verleih

"The Teaches of Peaches", Filmstill, 2024


Diamantenklau mit einem Meisterdieb

Mit einem Kunstdieb mitfiebern? Ein ambivalentes Gefühl. Doch gerade hat der Juwelen-Coup im Pariser Louvre gezeigt, wie sehr ein spektakuläres Verbrechen die Öffentlichkeit (also "das Internet") zu eigenen Ermittlungsansätzen, Memes und pranks verleitet. Die Realität wird schneller zum konsumierbaren Krimi, als man "Marie Antoinette" sagen kann. Viele hat der Museums-Diebstahl an die Netflix-Serie "Lupin" erinnert, von der es inzwischen drei Staffeln gibt. Eine vierte ist in Planung. Und auch bei Hauptdarsteller Omar Sy ist es schwer, eine gewisse Sympathie mit einem cleveren Gangster zu vermeiden. 

In der ersten Staffel wird die Geschichte des jungen senegalesischen Einwanderers Assane Diop in Paris erzählt, dessen Vater Angestellter beim wohlhabenden Unternehmer Hubert Pellegrini ist. Als Chauffeur bringt er sich und seinen Sohn gerade so durch. Als sein Arbeitgeber ihn beschuldigt, ein wertvolles Collier gestohlen zu haben, wird er inhaftiert. Im Gefängnis begeht er Selbstmord, und der noch minderjährige Assane wird zum Waisen. Das einzige, was ihn an seinen Vater erinnert, ist ein Buch von Schriftsteller Maurice Leblanc über den Meisterdieb Arsène Lupin. 

Jahre später hat sich Assane Diop (Omar Sy) für einen erfolgreichen Karriereweg abseits der legalen Wege entschieden und will herausfinden, was damals wirklich mit dem Collier und seinem Vater geschah. Das Schmuckstück ist inzwischen wieder aufgetaucht und soll (da kommt die Aktualität ins Spiel) im Louvre versteigert werden. Diop schmiedet einen genialen Plan, der hier nicht weiter verraten werden soll, der aber gewisse Züge der Realität trägt.

Die Dreharbeiten haben tatsächlich im Louvre in Paris stattgefunden. Fans der Serie haben jedoch schnell nach dem realen Verbrechen auf Unterschiede hingewiesen. So kommentierten User auf den Social-Media-Konten des Louvre: "Lupin hatte nie einen Kran benutzt".

Wer statt Unterhaltung lieber mehr Informationen über den Tatort bekommen möchte, kann sich in einer Arte-Doku übrigens über den Apollo-Flügel des Louvre informieren, aus dem die Juwelen gestohlen wurden.

"Lupin", drei Staffeln, auf Netflix

Omar Sy in "Lupin"
Foto: Netflix

Omar Sy in "Lupin"


Raub, Betrug und Enttäuschungen auf dem Kunstmarkt

Und wenn wir gerade bei Kunst und Verbrechen sind: Eine der interessantesten, heikelsten und gleichzeitig banalsten Facetten der bildenden Kunst entsteht aus ihrer Nähe zum Kapital – je nachdem, wie sie sich selbst in dieser Bedingtheit emanzipiert. Während darstellende und angewandte Künste, Literatur, Theater und Musik vielfältige Produktions- und Verbreitungswege gefunden haben, bleibt die am Fetisch des Originals hängende Objektkunst ein Gegenstand von Spekulationen, umschwirrt von Reichen, aber auch von Kriminellen. Wie schnell etwa wichtige Überzeugungsarbeit von Galeristen in Betrug kippen kann, zeigt eine 3-Sat-Dokumentation mit dem schlichten Titel "Fürs Geld – Drei spektakuläre Kunstbetrüge". Darin geht es unter anderen um den Fall des verurteilten US-Kunsthändlers Inigo Philbrick, der als "Serienschwindler", wie ihn der Richter später nennen wird, Sammler um Millionen gebracht hat.

Philbrick verkaufte unter anderem Kunstwerk-Anteile, die zusammen mehr als 100 Prozent ergaben, an verschiedene Interessenten. Der talentierte junge Mann, der für seinen ausschweifenden Lebensstil bekannt war, hatte sich auf den Sekundärmarkt und das sogenannte "Art Flipping" spezialisiert, also den Spekulationshandel, bei dem Kunstwerke möglichst günstig erworben und mit hohem Gewinn weiterverkauft werden. Außerdem hat Philbrick Investoren betrügerische Dokumente zu einzelnen Werken präsentiert.

Der Film lässt die New Yorker "Artnet"-Journalistin Eileen Kinsella und einen Anwalt zu Wort kommen, die den unglaublichen Fall, bei dem auch deutsche Sammler geschädigt wurden, detailliert aufrollen. Nach ersten Vorwürfen und Klagen war Philbrick untergetaucht und wurde 2020 auf der Südseeinsel Vanuatu verhaftet. 2022 wurde er zu sieben Jahre Haft verurteilt, 2024 in den Hausarrest entlassen. "Eitelkeit und Gier" habe ihn angetrieben, sagt Philbrick im Gerichtsprozess. "Ich versuchte, einen Weg zu finden, um ein Leben zu führen, das nicht wahr ist."

Die schillernde Geschichte offenbart Auswüchse im System, die nichts mehr mit der eigentlichen Kunst zu tun hat. Bei dem Rechtsstreit des niederländischen Sammlers Bert Kreuk mit dem in Berliner Künstler Danh Vo, den "Fürs Geld" auch beleuchtet, geht es hingegen direkt um die Autonomie des Künstlers und seine Abhängigkeit vom Geld. Danh Vo wurde 2015 von einem Rotterdamer Gericht dazu verurteilt, innerhalb eines Jahres ein neues Werk für Kreuk anzufertigen. Es gab damit dem Sammler recht, der behauptet, der Künstler habe ihm eine große Installation versprochen, die eigens für eine von Kreuk kuratierte, mitfinanzierte und mit eigenen Sammlungsbeständen ausgestattete Schau im städtischen Gemeentemuseum in Den Haag hergestellt werden sollte. 

Danh Vo habe nicht die vereinbarte Installation geliefert, und so sei es nötig gewesen, die Ausstellung neu zu arrangieren. Kreuk verklagte den Künstler und seine Berliner Galeristin Isabella Bortolozzi auf Schadenersatz – für die angeblich daraus resultierende Rufschädigung und für die Verluste, die er gemacht habe, weil er Kunstwerke veräußert habe, um die Arbeit des Beklagten erwerben zu können. Danh Vo und seine Galeristin bestritten die Vorwürfe. Nach dem Urteil kündigte der Künstler dann die große Installation an, die er dem Sammler versprochen hat - es sollte ein Zitat aus dem Film "Der Exorzist" enthalten: "Shove it up your ass, you faggot!"

Auch im dritten Fall handelt es sich nicht um Betrug im engeren Sinne: Vielmehr geht es um den Raub des Van-Gogh-Gemäldes "Der Pfarrgarten in Nuenen im Frühling" und die Ermittlungen des Kunstdetektivs Arthur Brand, der vorführt, wie man durch Einfühlung und Geduld Erfolg haben kann. Das unterscheidet ihn, genauso wie die in der Doku zu Wort kommenden Journalistinnen (neben Kinsella auch die große Georgina Adam), von vielen anderen verbissenen Kunstmarktakteuren und Verbrechern, die hier vorgestellt werden.

Der Film hat eine beeindruckende Menge an Gesprächspartnern vor die Kamera bekommen, fast verheizt er sie in den kurzweiligen 45 Minuten. Dennoch gibt er eine gute Übersicht auf sehr unterschiedliche Arten von kriminellen und ethischen glitches in einer Branche, in der Versprechungen, Erwartungen und Geld so nah beieinander liegen.

"Fürs Geld – Drei spektakuläre Kunstbetrüge", 3sat-Mediathek, bis 29. März 2026

"Fürs Geld", Filmstill, 2024
Foto: Courtesy 3Sat

"Fürs Geld", Filmstill, 2024


Robert Rauschenberg und der Hunger nach Neuem

John Cage und Merce Cunningham trafen sich Anfang der 1940er-Jahre, rund zehn Jahre später kamen Robert Rauschenberg und Cy Twombly hinzu – sie lernten sich am berühmten Black Mountain College in North Carolina kennen. Cage und Cunningham unterrichteten dort, Rauschenberg und Twombly stießen als Schüler hinzu. Kurze Zeit später wurde Jasper Johns Teil der Gruppe. Fünf Künstler, fünf Freunde, fünf Liebhaber. Ihrem gemeinsamen Gedankenkosmos entsprangen Werke, mit denen sie die US-amerikanische Nachkriegsmoderne nachhaltig prägten.

Den inzwischen legendären "Fünf Freunden" ist eine Ausstellung gewidmet, die zuerst im Museum Brandhorst in München und aktuell im Museum Ludwig in Köln zu sehen ist. Auch der neue Dokumentarfilm "Robert Rauschenberg - Alles ist Kunst", der gerade in der Arte-Mediathek zu finden ist, nimmt seinen Ausgang in der künstlerischen Clique. Im Oktober 2025 wäre Rauschenberg 100 Jahre alt geworden. Regisseurin Susanne Brand würdigt den US-Amerikaner nun als furchtlosen Erneuerer der Nachkriegskunst - stets inspiriert durch den Austausch mit seinen kreativen Komplizen, insbesondere mit seinem Liebhaber Cy Twombly.

Bereits in den 1950er-Jahren greifen Rauschenberg und Twombly einen Gedanken auf, der nicht nur den Postminimalismus, sondern bis heute wichtige Strömungen der zeitgenös­sischen Kunst prägt: dass die Wahl des Materials und der Umgang mit ihm eine politische, subversive Angelegenheit sein kann, dass sich in der Auswahl eines Stoffs, der Faltung eines Papiers, der Vorliebe für bestimmte Muster oder Oberflächen politische oder queere Haltung vermittelt.

Für Rauschenberg ist diese Strategie dringlich. Und er tut etwas Unerhörtes: Er geht zu dem Maler Willem de Kooning, den er verehrt und der neben Pollock der größte Held des Abstrakten Expressionismus ist. Er bittet ihn um eine Zeichnung. Rauschenbergs Werk besteht darin, sie demonstrativ auszuradieren. De Kooning gibt Rauschenberg eine Arbeit von sich, Rauschenberg radiert einen Monat lang, bis ein weißes, leeres Bild entsteht, eine Landebahn für Nichts. Er rahmt es, schraubt ein Schildchen an: "Erased de Kooning Drawing, Robert Rauschenberg, 1953."

Was heute als Meilenstein der Kunstgeschichte gilt, führte damals aber zu enormer Empörung. Als Rauschenbergs Sperrmüll-Malerei erstmals in einer Galerie in New York gezeigt wurde, erregte sie derart Aufsehen, dass man das Gästebuch entfernen musste. 1964 vertrat er mit seiner Kennedy-Siebdruckserie die Vereinigten Staaten bei der Biennale von Venedig – und gewann als erster Amerikaner den Großen Preis für Malerei. Der Film "Alles ist Kunst" zeichnet diesen Weg nach und vermischt dabei Archivmaterial mit Experteninterviews. Dabei stößt man wieder einmal auf ein typisches Phänomen des Künstlerporträts: Was in der Realität ein Kampf mit ungewissem Ausgang war, zeigt sich in der Rückschau vor allem als Erfolgsgeschichte. 

"Robert Rauschenberg - Alles ist Kunst", Arte-Mediathek, bis 16. April 2026

Merce Cunningham, Robert Rauschenberg, John Cage, M.C. Richards, Bob Cato und Jasper Johns, 1958
Foto: Bob Cato/Courtesy of George Avakian, zur Verfügung gestellt vom Museum Ludwig

Merce Cunningham, Robert Rauschenberg, John Cage, M.C. Richards, Bob Cato und Jasper Johns, 1958

 

Frauen und Arbeit in der DDR

Der Film "Die Unbeugsamen 2 – Guten Morgen, ihr Schönen!" erweitert Torsten Körners Blick vom westdeutschen Machtapparat auf den Alltag ostdeutscher Frauen. Anders als im ersten Teil geht es nicht um die bekannte Heldinnen-Agenda der Bonner Republik, sondern um Lebensrealitäten in einem System, das Gleichberechtigung verordnete und zugleich genau kontrollierte, wie weit sie gehen durfte.

Im Zentrum stehen 15 Frauen, die ihre Biografien mit bemerkenswerter Klarheit rekonstruieren. Doris Ziegler beschreibt, was es hieß, als Künstlerin ernst genommen werden zu wollen, während Ausstellungen und Anerkennung dennoch oft an männlicher Zustimmung hingen. Gabriele Stötzer spricht über Verhaftung und das Gefängnis Hoheneck – und darüber, wie Kunst sich gerade unter solchen Bedingungen als Mittel der Selbstbehauptung schärft. Annemirl Bauer taucht über die Schilderungen ihrer Tochter Amrei als Figur auf, die mit gestalterischer Konsequenz in Konflikt mit dem Staat geriet.

Diese künstlerischen Positionen stehen neben solchen aus der Arbeitswelt: Katrin Seyfarth wurde als junge Metallurgin zur "Heldin der Arbeit", gleichzeitig aber ständig daran erinnert, dass sie im Stahlwerk eine Ausnahme bleiben sollte. Katrin Sass, Ulrike Poppe, Barbara Mädler und Brunhilde Hanke zeigen weitere Aspekte eines Systems, in dem Berufstätigkeit für Frauen selbstverständlich war, Macht allerdings nicht.

Körners Collage verzichtet auf erklärende Off-Kommentare. Archivmaterial des DDR-Fernsehens, Ausschnitte aus DEFA-Produktionen, Musik von Veronika Fischer oder Silly rahmen die Aussagen und bilden eine zweite Erzählebene. Gerade in dieser Montage zeigt sich die Ambivalenz: die fortschrittliche Fassade, unter der die klassische Arbeitsteilung fortlebte; gesellschaftliche Teilhabe, die nicht automatisch zu politischer Autorität führte.

Besonders deutlich werden die Brüche nach 1990: Viele interviewte Frauen berichten, wie ihre berufliche Kompetenz plötzlich abgewertet wurde, wie Selbstverständlichkeiten verschwanden, die im Westen noch lange umkämpft waren. Das Narrativ der Befreiung wirkt aus dieser Perspektive unvollständig. "Die Unbeugsamen 2" ist kein nostalgisches DDR-Porträt und kein reines Korrektiv. Es ist der Versuch, weibliche Erfahrung in einem historischen Spannungsfeld sichtbar zu machen, das Deutschland bis heute prägt. Ein Film, der unterschiedliche Wahrheiten nebeneinander bestehen lässt.

"Die Unbeugsamen 2 – Guten Morgen, ihr Schönen", 3-Sat-Mediathek, bis 30. November

Die Malerin Doris Ziegler im Doku-Film "Die Unbeugsamen 2 - Guten Morgen, ihr Schönen"
Foto: © Anne Misselwitz / ​BROADVIEW Pictures

Die Malerin Doris Ziegler im Film "Die Unbeugsamen 2 - Guten Morgen, ihr Schönen"


Ein verlorener Fotograf

"I am homesick and I cannot return". Diesen Satz hört man immer wieder aus dem Off in dieser Geschichte eines qualvollen Exils, die aus der Perspektive des vertriebenen Künstlers erzählt wird. Der Schauspieler Lakeith Stanfield spricht die Worte des aus Südafrika geflohenen Ernest Cole mit einer melancholisch matten Stimme, langsam und nachdenklich. 

Der 1940 in Pretoria geborene Fotograf wuchs in der Apartheid auf, dokumentierte die Auswüchse des rassistischen Systems und verließ sein Land mit vielen Negativen 1966 Richtung USA. Den "Horror of Apartheid", wie er in einem frühen Interview sagte, hielt er mit versteckter Kamera in Schwarz-Weiß-Bildern fest. Die Szenen enthüllten katastrophale Arbeitsbedingungen Schwarzer Minenarbeiter, grundlose Polizeikontrollen und Verhaftungen oder die harten Lebensverhältnisse von Oppositionellen in Internierungslagern. Veröffentlicht werden konnten sie erst 1967 in dem heute legendären Fotoband "House of Bondage" in den USA. 

Der Regisseur Raoul Peck hat Ernest Cole den Film "Lost And Found" gewidmet. Zu dessen tragischer Lebensgeschichte kommen darin die unfassbar lebensnahen Fotografien von Cole, durch die er die Welt beobachtete, wie er selbst sagte. Denn als Chronist des Elends wollte er nicht eingeordnet werden. Das gilt für das Frühwerk aus Südafrika und für die späteren Streifzüge durch das New York der frühen 1970er, geprägt vom politischen Aktivismus und blühender Straßenmode.

Zu dem hypnotischen Fluss aus unzähligen Aufnahmen gesellen sich auch bewegte Bilder als historische Dokumente, die sich zu einem erschütternden Zeitbild summieren. Denn in den USA, wo Cole glaubte, mit offenen Armen aufgenommen zu werden, erlebte er trotz Ruhm schnell Ablehnung und Schubladendenken. 

Der Kampf der Bürgerrechtsbewegung, den Cole festhielt, wurde nie wirklich seiner. Wie viele seiner südafrikanischen Freunde in den USA ertrug er das Exil nicht. In Schweden, Großbritannien und Dänemark erging es ihm nicht besser. Zurück in den USA wurde er zeitweise obdachlos und hörte in den 1980ern auf zu fotografieren. New York sei eine seelenlose Stadt, meint Cole gegen Ende. Die Menschen schauten nie zum Himmel. 1990 stirbt Cole an Krebs, ohne das Ende der Apartheid zu erleben. 

Sein Neffe steuert zuvor noch einen pikanten weiteren Erzählstrang bei. 2017 werden ihm aus einem schwedischen Banksafe drei Kisten mit etwa 60.000 sorgfältig sortierten Fotos und Negativen des Onkels aus der US-amerikanischen Zeit übergeben. Trotz Nachfrage erfährt er nicht, wie sie dorthin gelangten und wer über die Jahre die Depotkosten zahlte. Es ist ein Schatz, dem sich nicht zuletzt die Faszination des grandiosen Filmmaterials verdankt.

"Ernest Cole: Lost And Found", bei Vimeo zum Leihen und Kaufen

Der Fotograf Ernest Cole
Foto: © Ernest Cole

Der Fotograf Ernest Cole


Einmal Babo und zurück

Niemand scheint diese Dokumentation über den Rapper Haftbefehl noch nicht gesehen zu haben, und alle sind sich einig, dass es sich um eine großartige Geschichte von Aufstieg und Fall ist, so ungeschönt und so ehrlich. Elyas M’Barek hat produziert, Regie führten Sinan Sevinç und der Spiegel-Journalist Juan Moreno. Das Porträt ist aufgebaut, wie man das heute macht: Erzählt wird durch die O-Töne der anderen, die Bilder werden nachträglich passend montiert und viele Szenen mit Schauspielern nachgedreht. Es wird mit viel Zeitlupe und mit wenig subversiver Unterlegmusik gearbeitet, die aufkommende Tragik und dräuendes Unheil aufdringlich vorbereiten. 

Um das Talent des Rappers Haftbefehl, um seine Innovationen und seine einzigartige Kunstsprache geht es wenig. Seine Songs werden nur angerissen. "Ich bin geboren für den Scheiß. Alles, was ich brauche, ist ein Beat und ein Mikro", sagt er einmal, und das stimmt. 

Der tragische Held, seine grausame Vernachlässigung durch Erwachsene, Familie, Gesellschaft, Deutschland, geht nah. Aus dem kleinen talentierten Jungen, der acht Jahre lang erfolgreich für Kickers Offenbach spielt und dessen Vater zu keinem einzigen Spiel kommt, wird einer, der vor lauter Traurigkeit alle unterhalten will und vor nichts mehr Angst hat, auch nicht davor, zu sterben. Suizide gab es in seiner Familie schon immer, wie sein jüngerer Bruder erzählt; ihn zieht Aykut groß, als ihr Vater sich das Leben nimmt. 

Es wird von einer Aufspaltung des Jungen gesprochen, der mit 13 anfängt zu koksen und mit Mitte 30 beinahe daran stirbt: in den liebenswerten, originellen Aykut, und in Haftbefehl, von dem alle etwas wollen, weil er krass ist. Der tagelang abtaucht, der unerreichbar ist, der selbst zu einem Vater wird, den seine Kinder vermissen. "Den Aykut liebe ich, den Haftbefehl nicht", sagt seine Frau, Nina Anhan. Sie bekommt die Tiefs von Sucht und Depression, das Publikum das High auf der Bühne.

Der gnadenlose Voyeurismus des Films wird damit entschuldigt, dass Haftbefehl für Ehrlichkeit sei und alles zeigen wolle. Zugutehalten muss man den Machern, dass sie von der sich entwickelnden Tragödie während der Dreharbeiten nichts wissen konnten. Es bleibt ein ungutes Gefühl der Würdelosigkeit und der gnadenlosen Ausbeutung eines Talents, nicht zuletzt durch sich selbst; natürlich, wie soll er auch wissen, was gut für ihn ist. 

Aber die anderen werden mehr davon profitieren als der für immer derangiert in Erinnerung bleibende Künstler. Wer sich wirklich für seine Geschichte interessiert, hört die vier Teile von "1999" auf dem Album "Russisch Roulette". Er hat sie schon längst erzählt, in seiner Kunst.

"Babo - Die Haftbefehl-Story", auf Netflix

Haftbefehl alias Aykut Anhan in "Babo - Die Haftbefehl-Story", 2025
Foto: --/Netflix /dpa

Haftbefehl alias Aykut Anhan in "Babo - Die Haftbefehl-Story", 2025


Liebeserklärungen an Lutz Bacher

Lutz Bacher behielt gern die Kontrolle über das Bild, das die Welt von ihr hatte. Und das bedeutet im Fall der 2019 verstorbenen US-Künstlerin auch, dass sie unter einem männlich anmutenden Pseudonym agierte. Es ging ihr weniger um die minutiöse Konstruktion einer Künstlerinnenidentität, um die sich ihr Werk dreht, als um die Erschaffung eine Persona, durch die auch sehr persönliche Themen verhandelt werden können, ohne dass die Künstlerin als Individuum in den Fokus gerät. Durch die Hinwendung zum Intimen wird die Figur Bacher zur Projektionsfläche für das Publikum, zum Spiegel für die conditio humana. Dazu passt, dass sie sich lieber selbst interviewte, statt sich von anderen befragen zu lassen, oder Menschen aus ihrem Umfeld über sich sprechen ließ.

Zu fragen "Liebst du mich?" macht Angst – vielleicht, weil es die Möglichkeit enthält, dass dies eben nicht der Fall ist. Fragen wie "Was siehst du in mir?" sind unbequem. Und Bacher nahm gern genau solche Themen ins Visier. Für ihre zwölfstündige Videoarbeit "Do you love me?" setzte sie Freunde, Kolleginnen, Galeristinnen und Familienmitglieder vor die Kamera und befragte sie zu sich selbst – der Künstlerin und der Person Lutz Bacher. Dabei legen die Fragen, die sie stellt, eigentlich viel mehr über die Menschen offen, die sie beantworten, als über die, um die sie sich vermeintlich drehen. 

Bacher selbst bekommen wir in dem Video nicht zu sehen, das anlässlich der aktuellen Retrospektive der Künstlerin im Osloer Astrup Fearnley Museet im Loop auf der Museumswebsite gezeigt wird. Wir hören nur ihre Stimme, während sie ganz nah an die Personen aus ihrem Leben heranzoomt. Da das Video weder vor- noch zurückgespult werden kann, werden wir mitten in die Unterhaltung geworfen und bekommen einen Einblick in das Leben einer nicht zu greifenden Gestalt.

In Selbsthilfe-Ratgebern liest man häufig, ein Mensch sei das Produkt jener fünf Personen, mit denen er am meisten Zeit verbringt. Nach dieser Logik wäre die Videoarbeit "Do you love me?" ein Mosaik aus all den Teilen, aus denen sich Lutz Bacher zusammensetzt. Und damit am Ende wohl doch das stimmigste Porträt, das man von der Frau zeichnen könnte, die sich hinter dem Pseudonym versteckt.

Lutz Bacher "Do you love me?", Astrup Fearnley Museum online 

Lutz Bacher "Burning The Days", Installationsansicht Astrup Fearnley Museum, Oslo, 2025
Foto: Christian Øens, Courtesy Estate of Lutz Bacher und Galerie Buchholz

Lutz Bacher "Burning The Days", Installationsansicht Astrup Fearnley Museum, Oslo, 2025