Streamingtipps

10 Kunst-Filme, die sich jetzt lohnen

Der Lockdown geht weiter, stream on! Für das Wochenende empfehlen wir den neuen Film von "Systemsprengerin" Helena Zengel, eine emotionsgeladene YouTube-Collage und eine Doku zum Ausnahmemaler Forrest Bess


Der Espresso über Berlin

Es gibt wohl nicht wenige Langschläfer, die behaupten würden, vor der ersten Tasse Kaffee kein richtiger Mensch zu sein. Zuende gedacht hat diese Zuschreibung der Film "Der Himmel über Berlin" von 1987, in dem der menschgewordene Engel Damiel (Bruno Ganz) als erste irdische Handlung im Stehen einen Pappbecher heißes Kiosk-Koffein zu sich nimmt.

Der Künstler Moritz Frei hat dagegen noch nie Kaffee getrunken. Für seine erste Tasse verabredet er sich 2017 mit dem Schauspieler Bruno Ganz (1941-2019), der zuerst versucht, einem Unwissenden das Erlebnis eines guten Espressos zu beschreiben. Schließlich gehen die beiden Männer in einem Café Freis erstes Tässchen trinken – schwarz, ohne Zucker, mit einem Glas Wasser dazu. "Meine erste Tasse Kaffee" ist ein leiser, sinnlicher Film über Genuss und gleichzeitig eine Hommage an Bruno Ganz und die Stadt Berlin. Eigentlich wäre der Film gerade in der Ausstellung "In aller Munde" im Kunstmuseum Wolfsburg zu sehen, das jedoch wegen der Corona-Pandemie geschlossen ist. Bis Ende Februar steht das Video nun online zur Verfügung.

Und wer dabei gleich Sehnsucht nach dem "Himmel über Berlin" von Wim Wenders bekommt, kann den Schwarz-Weiß-Klassiker hier streamen.

Moritz Frei "Meine erste Tasse Kaffee", Kunstmuseum Wolfsburg online, bis 28. Februar


Jamaika: Ode an eine Insel

Das Motiv der Mutter als Lebensspenderin, Ernährerin und lebenslange komplizierte Liebe ist nicht gerade ungewöhnlich. Selten wurde es jedoch so bildgewaltig umgesetzt wie in der experimentellen Dokumentation "Black Mother" von Khalik Allah. Der Regisseur montiert darin collagenartig analoge Aufnahmen aus Jamaika, und erzeugt damit einen hypnotischen Bilderstrom, in dem Naturschauspiele genauso ihren Platz haben wie Elend, Spiritualität und Nähe zwischen Menschen. Sogar eine Geburt wird gezeigt, der Film ist also nichts für schwache Nerven - aber ein beeindruckendes Porträt eines Landes und seiner postkolonialen Gegenwart.

"Black Mother", Arte-Mediathek, bis 27. Juli


Platz ist in der kleinsten Hütte

Wenn Beschränkung kein Symptom von Armut, sondern eine bewusste Entscheidung in einer Überfluss-Gesellschaft ist, kann sie Trend werden. So zum Beispiel beim Phänomen "Tiny Houses", bei denen Menschen auf kleinstem Raum mit dem Nötigsten wohnen. Die Dokumentation "Tiny House Stories" besucht Verfechterinnen und Verfechter dieser Wohnform, die mit ihren winzigen, oft mobilen Häuschen nachhaltig und unabhängig von horrenden Immobilien- und Mietpreisen leben wollen. Dass dabei innovative, und auch noch ziemlich hübsche Architektur entstehen können, zeigen unter anderem die schwimmenden Tiny Houses in Rotterdam. 

"Tiny House Geschichten", ARD-Mediathek, bis 3. Februar 2022

Tiny Houses bei einem Hersteller in Ludwigslust
Foto: dpa

Tiny Houses bei einem Hersteller in Ludwigslust


Wer wird eigentlich ein "Alter Meister?"

Alle reden über den Kanon - und dass er ein ziemlich beschränktes Bild der Kunstgeschichte liefert. Wie aber kommt es, dass einige Maler (und wenige Malerinnen) sich ins kollektive Gedächtnis gebrannt haben - und so viele andere eben nicht? Die Dokumentations-Reihe "Das Geheimnis der Meister" versucht mit verschiedenen Experten zu klären, warum einige Künstler über Jahrhunderte nichts von ihrer Faszination verlieren - und welche Geheimnisse ihre Werke preisgeben können. Unter die Lupe genommen werden hier unter anderem die niederländischen Maler Jan Vermeer (warum fesselt der Blick des Mädchens mit dem Perlenohrring so andauernd?), Hieronymus Bosch, Karel Appel und Vincent Van Gogh. Auch Claude Monet und William Turner werden unter die Lupe genommen. Und selbst Kunstkenner können hier noch Neues lernen.

"Das Geheimnis der Meister", ZDF Mediathek, bis 21. Januar

"Das Geheimnis der Meister", ZDF
Foto: ZDF

"Das Geheimnis der Meister", ZDF

 

Ein neuer Stern in Hollywood

"Neues aus der Welt" ist ein stiller Western, ohne laute Schießereien und viele Worte. Die zehnjährige Johanna oder Cicada, wie sie von den Kiowa-Ureinwohnern genannt wurde, spricht nur im Stammesdialekt und in Zeichensprache, dazu ein paar Brocken Deutsch, Englisch versteht sie nicht. Die Berliner Schülerin Helena Zengel spielt dieses verwaiste Mädchen in den Weiten von Texas von 1870, wortkarg, aber mit unglaublicher Ausdrucksstärke.

Die packende Nebenrolle an der Seite des zweifachen Oscar-Preisträgers Tom Hanks brachte der ZwölfJährigen ("Systemsprenger") in Hollywood schon Nominierungen für einen Golden Globe und die Preise des US-Schauspielerverbands ein. Statt im Kino läuft der Film jedoch nun auf Netflix aus.

Hanks spielt die Hauptrolle des Captains Jefferson Kyle Kidd, ein Veteran des amerikanischen Bürgerkrieges, der nun als Nachrichtenbote durch Texas reist und den Menschen aus Zeitungen vorliest. Auf einer Fahrt mit seinem Kutschenwagen trifft der Witwer auf das verstörte Mädchen, nun zum zweiten Mal verwaist. Sechs Jahre zuvor hatten Kiowa ihre deutsche Einwandererfamilie getötet und das Kind aufgezogen, nun wurde ihre Stammesfamilie Opfer von Soldaten. In einem entlegenen Teil von Texas hat sie Verwandte, Kidd will sie dorthin bringen. "Sie soll lachen dürfen und träumen, sie braucht neue Erinnerungen", erklärt der Captain.

Der britische Regisseur Paul Greengrass, für Action-Thriller wie «Das Bourne Ultimatum» und «Captain Phillips» (mit Tom Hanks) bekannt, zieht nun mit epischen Bildern von weiten Landschaften in seinen Bann. Das Drehbuch stammt von dem Australier Luke Davies, der schon in "Lion – Der lange Weg nach Hause" ein Kinderschicksal feinfühlig erzählte.

"Neues aus der Welt", auf Netflix

Tom Hanks und Helena Zengel in "Neues aus der Welt"
Foto: dpa

Tom Hanks und Helena Zengel in "Neues aus der Welt"


Forrest Bess: Der Maler als Rätsel

Unser Autor Oliver Koerner von Gustorf nannte die Retrospektive des Malers Forrest Bess im Fridericianum Kassel "eine der wichtigsten Ausstellungen" im Jahr 2020. Wegen des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr konnten sie jedoch nicht so viele Menschen ansehen wie erhofft. Auf der Website des Fridericianums ist dafür ein Ausstellungsfilm zu sehen, der einen Eindruck der Schau vermittelt.

Der komplexen Figur Forrest Bess (1911 bis 1977), der als Fischer zurückgezogen in Texas lebte, seine Bilder in New York ausstellte und in Trance-ähnlichen Zuständen zu seinen zunehmend abstrakten Motiven fand, kommt der Film "Key To The Riddle" von 1999 nahe. Forrest Bess erscheint dort als Weltenwandeler, der mit dem Kosmos in Verbindung stehen wollte und fesselnde Gedanken über die Universalität von Bildern entwickelte. Um höhere Bewusstseinsstufen zwischen weiblicher und männlicher Energie zu erreichen, schreckte Bess auch nicht davor zurück, seinen eigenen Körper zu verstümmeln. "Key To The Riddle" versucht, die Schönheit in Bess' Kunst mit dem Drama seines Lebens zusammenzuführen.

"Forrest Bess: Key to the Riddle", auf Vimeo, zum Ausleihen oder Kaufen

 

Georges Méliès - Der Magier des Kinos

Tatsachen-Thriller, Melodramen, Horror- und Abenteuerfilme: Eigentlich haben die Gebrüder Lumière und Georges Méliès in den letzten Tagen des 19. Jahrhunderts schon alle Filmgenres und viele Kinostandards erfunden. Man muss nicht übertrieben frankophil sein, um diese Innovationskraft aus Lyon und Paris anzuerkennen.

Méliès, über den man zurzeit viel in der Arte-Mediathek (staunen) lernen kann, ist mindestens dank der "Reise zum Mond" (1902) – Science-Fiction avant la lettre – berühmt. Viele seiner tricktechnisch innovativen Filme – es waren über 500 – galten aber als verloren, weil Méliès im Kino-Hype der 1910er- bis 20er-Jahre von der Konkurrenz überrollt wurde, pleite ging und 1923 alle seine Negative verbrannte.

Bis zum 9. März ist im Arte-Archiv Eric Langes Dokumentarfilm "Das Geheimnis Georges Méliès" zu sehen. Darin wird das Mysterium gelüftet, warum inzwischen nicht nur schlechte Kopien, sondern auch lauter echte Negative verfügbar sind. Ein Teil dieser nicht nur zauberhaften und witzigen, sondern eben auch von der Bildqualität her grandiosen Filmchen ("Der Mann mit dem Gummikopf") und Kurzspielfilme ("Die 400 Streiche des Teufels") sind sogar bis 31. Mai abzurufen. Georges Méliès pour toujours.

"Das Geheimnis Georges Méliès" und andere Kurzfilme des Kinopioniers, Arte-Mediathek, bis 9. März/31. Mai

George Méniès "Die Reise um Mond" (Film Still), 1902
Foto: CC

George Méniès "Die Reise um Mond" (Film Still), 1902


Geschichten des Widerstands

Eigentlich sollte die Ausstellung "Resist" im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln Ende Januar eröffnen, aber Sie wissen schon, Lockdown. In der Ausstellung geht es um das wohl schmerzhafteste Thema, dem sich ethnologische Museen überall in der westlichen Welt stellen müssen: Dass sie die Geschichte des Kolonialismus rund ein Jahrhundert lang vor allem aus Sicht der Kolonisierer erzählt haben. "Resist! Die Kunst des Widerstands" will nun die Gegenperspektive einnehmen und anhand von Werken zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler vom Widerstand der Kolonisierten gegen ihre Unterdrücker erzählen. 

Bevor die Ausstellung physisch eröffnen kann, gibt es online einen Eröffnungsfilm zu sehen, der nicht einfach nur abfilmt, was sonst im realen Raum stattgefunden hätte, sondern als visuelle Collage gedacht ist. Performerinnen führen tanzend durch die Museumsräume, Direktorin Nanette Snoep spricht via Zoom mit Künstlerinnen und Expertinnen über die Geschichte und die Gegenwart des Kolonialismus und zwischendurch werden kurze Videokunstwerke eingespielt. In der digitalen "Library of Resistance" findet man weitere Filme zum Thema. Unter anderem finden sich ein Vortrag der Künstlerin und Autorin Grada Kilomba und Gedichte von Audre Lorde.

"Resist! Die Kunst des Widerstands", Rautenstrauch-Joest-Museum online

Selma Selman "You Have No Idea", 2016, Performance
Foto: © Zoltan Adam, Courtesy of Gallery8

Selma Selman "You Have No Idea", 2016, Performance
 

Jäger und Sammler

In Deutschland ist das sogenannte "Containern", also das Fischen von essbaren Lebensmitteln aus Abfällen von Supermärkten, als "Diebstahl" oder "Hausfriedensbruch" strafbar. Menschen, die intakte Lebensmittel weiterverwenden wollen, werden so kriminalisiert. Meist betrifft das jene, die ohnehin wenig Geld haben und am Rand unserer Gesellschaft stehen. Das Thema ist in deutschen Medien immer wieder präsent.

Das Phänomen des Sammelns intakter, aber nicht der Euronorm entsprechenden Dinge, greift die französische Regisseurin Agnès Varda in ihrer essayistischen Dokumentation "Die Sammler und die Sammlerin" (2000) auf. Die "Glaneurs", wie Varda diese Menschen im Film bezeichnet, wurden schon 1857 in François Millets (1814–1875) gleichnamigen Gemälde "des glaneuses" visualisiert. Ausgehend von Millets Klassiker, der heute im Musée d‘Orsay hängt, projiziert die Filmemacherin das Bild der "Glaneurs" auf unsere moderne Gesellschaft.

Dabei werden Menschen verschiedenen Alters und sozialer Gruppen gezeigt, die Dinge auflesen, die für die kommerzielle Verwertbarkeit nicht mehr geeignet sind. So retten sie zurückgelassene Ernte auf Feldern, pflücken übrig gebliebene Früchte von Bäumen, eigenen sich weggeworfene Lebensmittel von Bäckereien und Supermärkten an oder sammeln abgestellte Gegenstände und Möbel von der Straße auf.

Diese Dinge, die für unsere Wegwerfgesellschaft keinen Nutzen mehr haben, werden von den "Glaneurs" weiterverwendet oder repariert. Eigentlich eine gute Sache, oder? Doch auch in Frankreich ist die Rechtslage des Aufsammelns komplizierter als man denkt. So wird der Film zeitweise mit Kommentaren eines Juists versehen, der die Gesetzeslage erläutert. Die Dokumentation ist ein persönlicher und humanistischer Blick hinter die Fassade unserer Klassengesellschaft und über das Glück der Finder und Finderinnen.

Agnès Varda "Die Sammler und die Sammlerin, auf Mubi

Die Filmemacherin Agnès Varda in "Die Sammler und die Sammlerin", Filmstill
Foto: Mubi

Die Filmemacherin Agnès Varda in "Die Sammler und die Sammlerin", Filmstill

Menschen, ey!

Ein Tag auf der Erde, der 25. Juli 2020, und ein globales Filmexperiment: "Life in a Day 2020" fügt über die Online-Plattform YouTube hochgeladene Videos aus vielen verschiedenen Ländern zu einer emotionsgeladenen Collage des Lebens in der Pandemie zusammen. Es ist die Fortsetzung eines ähnlichen Crowdsourcing-Experiment von vor zehn Jahren, diesmal gab es 32.000 Einreichung, aus dem Regisseur Kevin Macdonald einen beeindruckenden Film gemacht hat. Es sind die existenziellsten Themen wie Geburt, Tod, Krankheit, Liebe, die hier in starken Bildern ihren Auftritt haben – alles unter Coronavorzeichen. Machmal wirkt das etwas pathetisch, verstärkt durch den aufschäumenden Soundtrack des eigentlich verlässlichen Musikers Matthew Herbert, aber nach anderthalb Stunden glaubt man schließlich doch erneut an die Menschheit als eine große Familie, denn ob Nomaden in der Mongolei und Influencer in westlichen Konsumhöllen, letztlich fühlen wir ähnlich. Der Film ist seit einigen Tagen auf YouTube zu sehen, legen Sie Taschentücher für eventuelle Tränen der Rührung bereit.