Streaming-Tipps

10 Kunst-Filme, die sich jetzt lohnen

Fotos aus dem Archiv von Nancy Kulik in "What Would Sophia Loren Do"
Foto: Courtesy of Netflix © 2021

Fotos aus dem Archiv von Nancy Kulik in "What Would Sophia Loren Do"

Unsere Filme der Woche stellen existenzielle Fragen: Ist Punk tot? Wohin führen die aktuellen Denkmalstürze? Und würde Sophia Loren Vollkornpizza essen?

 

Die Utopie eines anderen Ich

Nachdem der Regisseur Yorgos Lanthimos mit seinen gnadenlosen Arthouse-Satire-Filmen "The Lobster" (2015) und "The Favourite" (2018) große Erfolge gefeiert hatte, folgte 2019 "Nimic". Der Kurzfilm beschäftigt sich mit Identität, Beziehungen und der eigenen Wahrnehmung. Das ins Fantastische abdriftende Drama flirtet dabei auch mit Elementen des Thrillers.

Der Protagonist ist professioneller Cellist und wirkt wie eine eher traurige Existenz. Trotz Erfolg im Job und Bilderbuchfamilie mit großem eigenem Haus drücken seine Augen latentes Leiden aus. Nachdem er in der Metro eine Frau nach der Uhrzeit fragt, folgt diese ihm auf Schritt und Tritt. Ersetzt sie ihn, oder ist sie viel mehr eine bessere Version seiner selbst? Durch dieses Gedankenspiel wird deutlich, dass keine Rolle im Leben unerschütterlich ist und sich niemand seiner selbst sicher sein kann.

 "Nimic", auf Mubi

 

"Du bist, was du isst"

Unsere Gesellschaft lebt im Überfluss, an dem aber nicht alle Menschen gleichermaßen teilhaben. Vor allem das Thema Ernährung schwankt zwischen Extremen: von Selbstoptimierung durch Verzicht und Fokus auf gesunde Lebensmittel bis zum ungezügelten Konsum von Junk Food. "Du bist, was du isst" lautet das Motto zur Inszenierung des eigenen Selbst. Dieser Redewendung verleiht die Künstlerin Helen Anna Flanagan in ihrer Arbeit "Gestures of Matter" (2020) Ausdruck. Die Videoarbeit zeigt einen Kebab-Drehspieß, der sich zu einer DNA-Doppelhelix transformiert.

Flanagans Arbeit ist aktuell Teil der Ausstellung "The Kebab Helix" im Inter Media Art Institut Düsseldorf (Imai). Die Ausstellung zeigt verschiedene Videoarbeiten, die die Paradoxien der kapitalistischen Fast Food Industrie im Spannungsfeld von Rationalität und Funktionalität offenlegen. So werden die unterschiedlichen Gesichter der Konsumgesellschaft thematisiert: die Logik des Franchise-Systems, Arbeitsbedingungen in der Systemgastronomie oder Massenproduktion von Lebensmitteln und Überkonsum.

Da die Ausstellung seit November pandemiebedingt geschlossen bleiben muss, sind im Rahmen der Finissage bis 31. Januar alle Arbeiten auf der Website des Imai verfügbar. Zu sehen sind unter anderem Werke von Dara Birnbaum, Petr Vrána und dem Gorilla Tapes Kollektiv.  

"The Kebab Helix", Inter Media Art Institute Düsseldorf, bis 31. Januar

Helen Anna Flanagan "Gestures of Matter" 2020, Videostill
Foto: Filmstill, © Helen Anna Flanagan, 2020

Helen Anna Flanagan "Gestures of Matter" 2020, Videostill

 

Sophia Loren als Orakel 

Sophia Loren ist der Inbegriff von Ausstrahlung und Temperament. Mit ihrer Grazie hat die italienische Schauspielerin Millionen Menschen verzaubert. So auch Nancy Kulik, eine Amerikanern mit italienischen Wurzeln, die schon als Kind von ihren Eltern zu Loren-Filmen ins Kino mitgenommen wurde. Eingenommen von ihrer Schönheit und Schlagfertigkeit wurde Loren für Kulik zu einer Art Anker in Zeiten der Krise. Immer, wenn sie in ihrem Leben vor einem Problem oder einer Entscheidung stand, stellte sie sich die metaphorische Frage: "Was würde Sophia Loren tun?"

Das konnten eher banale Dinge sein: "Würde Sophia Loren Vollkornpizza essen?". Aber auch in schweren Zeiten, wie nach dem Tod ihres Sohnes, hat ihr der Gedanke an Sophia Loren Ruhe und Kraft gespendet. Die Netflix-Dokumentation "Was würde Sophia Loren tun?" gibt Einblick in die Geschichte zweier unterschiedlicher, aber doch verbundener Menschen. Sie zeigt, was es heißt, sich als Frau in einer Männer-Welt zu beweisen und Herausforderungen mit Ausdauer und Liebe zu bewältigen.

"Was würde Sophia Loren tun?", auf Netflix

Nancy Kulik and Sophia Loren
Foto: Courtesy of Netflix © 2021

Nancy Kulik and Sophia Loren


Ist Punkt jetzt tot ..

... oder versteckt er sich nur? Oder hat er sich so verändert, dass man ihn nicht mehr ohne weiteres erkennt? In einer pandemiebedingt exzessarmen Zeit macht sich die fünfteilige Dokumentation "The True Story Of Punk", die vom Rock'n'Roll-Idol und Gesamtkunstwerk Iggy Pop co-produziert wurde, auf die Reise zu den Ursprüngen der kratzbürstigen Jugendbewegung, die sich von den USA und Großbritannien aus weltweit verbreitete und neben der Musik auch in der Mode und der Kunst Einzug hielt.

Die akribisch recherchierten Filme stellen Schlüsselfiguren der Szene vor und binden die rebellische Subkultur in die politischen Umstände ihrer Entstehungszeit ein. Insofern ist die Punk-Story nicht nur für Fans des lauten Chaos interessant, sondern auch ein vielschichtiger Einstieg in die Kulturgeschichte seit den 1970er-Jahren. Die Folge "Die Erben" beschäftigt sich mit den zeitgenössischen Ausprägungen der Ströung. Die Antwort der Reihe ist eindeutig: Tot ist der Punk ganz bestimmt nicht.

"The True Story of Punk", ZDF-Mediathek, bis auf weiteres verfügbar

"The True Story of Punk"
Foto: ZDF

"The True Story of Punk"

 

Die Gewässer der Hölle

Das Verhältnis zum Meer ist eines der stärksten Verdeutlichungen der Ungleichheit zwischen Menschen. Für wohlhabende Europäerinnen und Europäer steht es meist für Freiheit und Erholung, für Migrantinnen und Migranten  ist es ein lebensbedrohliches Hindernis. Im eindringlichen, mehrfach preisgekrönten Film "Styx" (2018) von Wolfgang Fischer will sich die deutsche Notärztin Rike (Susanne Wolff) eigentlich eine Auszeit auf einem Segelboot auf dem Atlantik vor Gibraltar gönnen. Doch dann entdeckt sie nach einen Sturm ein völlig mit Menschen überladenes Boot in Seenot. Als sie begreift, dass von der Küstenwache keine Hilfe kommen wird, muss sie handeln. Ein reduzierter, aber gerade deshalber wuchtiger und bewegender Film über individuelle und kollektive Verantwortung.

"Styx", Arte-Mediathek, bis 2. Februar



Basquiat als Popstar

Wenn man in den letzten Monaten nach New York schaute, war die Corona-gebeutelte Metropole größtenteils eine bedrückende Geisterstadt in wirtschaftlicher Not. Diese Dokumentation über den Künstler Jean Michel Basquiat (1960 - 1988) erinnert sich an das ebenfalls problembehaftete, aber pulsierende New York der 1980er-Jahre, in dem Basquiat vom Sprayer zum Kunstwelt-Liebling avancierte und mit nur 27 Jahren an einer Überdosis Heroin starb.

Der Film von 2017 versucht, den Mythen rund um den Künstler auf den Grund zu gehen, dessen Werke heute Rekorderlöse auf dem Markt erzielen. War er ein selbstzerstörerisches Genie oder ein Kind der Subkultur, der in einer weißen, rassistischen High Society aufgerieben wurde? Zu Wort kommen auch Basquiats Schwestern Lisane and Jeanine, die vorher noch nie in einem Fernsehinterview zu sehen gewesen waren.

"Basquiat - Popstar der Kunstwelt", Arte Mediathek, bis 26. Juni


Wohin führen die neuen Denkmalstürze?

Dass Straßen und Plätze umbenannt und Herrscherdenkmäler gestürzt werden, gehört historisch zu jedem Regime-Wechsel. Was die derzeitige Bewegung zur Revision von Gedenkorten besonders macht, ist, dass die Forderungen aus der Bevölkerung kommen. Durch die "Black Lives Matter"-Bewegung ist wieder einmal ins öffentliche Bewusstsein gesickert, dass in vielen Städten der sogenannten westlichen Welt Sklavenhalter und Kolonialherrscher mit Statuen und Straßennamen geehrt werden, aber so gut wie keine Würdigung der Opfer des rassistischen Kolonialregimes im öffentlichen Raum stattfindet.

Die Dokumentation "Der große Denkmalsturz" zeigt Beispiele von Aktivistinnen und Aktivisten, die den Abbau kolonialer Denkmäler selbst in die Hand genommen haben und spricht mit denen, die ihre Geschichte eben nicht von der derzeitigen Erinnerungskultur repräsentiert sehen. Der Film will der Frage auf den Grund gehen, ob der derzeitige Ikonoklasmus Geschichte auslöscht, oder gerade erst die Möglichkeit eröffnet, die Historie differenzierter und klarer zu betrachten.

"Der große Denkmalsturz", 3-Sat-Mediathek, bis 22. August

"Decolonize Berlin" ist auf das mit Farbe beschmierte Bismarck-Nationaldenkmal in Berlin gesprüht
Foto: dpa

"Decolonize Berlin" ist auf das mit Farbe beworfene Bismarck-Nationaldenkmal in Berlin gesprüht


Sundance ist jetzt überall

Das berühmte Sundance Film Festival im US-Staat Utah läuft in diesem Jahr im virtuellen Format statt. Wegen der Corona-Pandemie findet das von Robert Redford begründete Festival für Independent- und Kunst-Filme in dem Wintersportort Park City ohne den üblichen Besucherandrang vor Ort statt. Zuschauerinnen und Zuschauer in aller Welt können aber in den nächsten Tagen online mehr als 70 Filme aus 29 Ländern sehen.

Zur Eröffnung feierte unter anderem die Dokumentation "In the Same Breath" seine Weltpremiere. Regisseurin Nanfu Wang zeigt darin, wie die Behörden in China und in den USA auf den Ausbruch der Corona-Pandemie reagiert haben.

Zahlreiche Hollywoodstars werden in Park City ihre Projekte vorstellen. "House of Cards"-Star Robin Wright zeigt ihr Regiedebüt "Land". In dem Überlebensdrama spielt sie zugleich die Hauptrolle einer Anwältin, die sich nach einem Schicksalsschlag allein in die Wildnis von Wyoming zurückzieht. Im Programm ist auch das Drama "Passing", bei dem Schauspielerin Rebecca Hall erstmals Regie führte. Ruth Negga und Tessa Thompson spielen hellhäutige Afroamerikanerinnen, die in den 1920er-Jahren in der weißen New Yorker Gesellschaft leben. 

Im internationalen Wettbewerbsprogramm hat unter anderem die deutsch-italienisch-dänische Koproduktion "Der menschliche Faktor" Weltpremiere. In dem Familiendrama des italienischen Drehbuchautoren Ronny Trocker spielen Mark Waschke und Sabine Timoteo mit.

Für viele kleinere Filme ist das Sundance-Festival ein Sprungbrett, um Verleiher und ein breiteres Publikum zu finden. Neben den Vorführungen sind auch Diskussionen mit Filmemacherinnen und Schauspielern auf einer neuen Plattform zu verfolgen, ergänzt um Veranstaltungen in mehreren US-Großstädten. Die 37. Ausgabe des Sundance Film Festivals soll bis zum 3. Februar laufen.

"Sundance Film Festival Online", bis 3. Februar

Weniger Glamour, aber auch weniger kalt: Das Sundance Festival in Utah findet diesmal digital statt
Foto: dpa

Weniger Glamour, aber auch weniger kalt: Das Sundance Festival in Utah findet diesmal digital statt


Die Talkshow als Kunst-Performance

Nach einem Jahr der gefühlt ununterbrochenen Corona-Talkshows in allen erdenklichen Formaten fühlen viele Menschen eine gewisse Gesprächsrunden-Ermüdung. Aber vielleicht muss man die Talkshow einfach als Spielart der Performance-Kunst verstehen, wie es die Künstlerin Jovana Reisinger tut.

Ihr Talk-Format "Men In Trouble" wurde in den Kulissen von Reisingers Ausstellung in der Kunsthalle Osnabrück gedreht und ist nun auf Vimeo verfügbar. Die Filmemacherin und Autorin lässt ihre leicht überkandiedelten Gäste vor Vorhängen in millenial pink auf die großen Themen los: Glück, Liebe, Geld, Schönheit, Sex und Glaube.

"Men In Trouble", auf Vimeo

Foto: Courtesy Jovana Reisinger und Kunsthalle Osnabrück
Foto: Courtesy Jovana Reisinger

Jovana Reisinger „Men In Trouble“ (Film Still)


Die Kunst des Widerstands 

Das bemerkenswerten Gesamtwerk des katalanischen Künstlers Josep Bartolí ist heute eher unbekannt. Dabei hatte er als ehemaliger Liebhaber von Frieda Kahlo und Teil der einflussreichen 10th-Street-Künstlergruppe um Größen wie Pollock und De Kooning beste Chancen, als unvergessenes Genie in die Geschichte einzugehen. Bartolís Weg nach Amerika ist dabei ebenso tragisch wie mitreißend: Als politischer Aktivist kämpfte er im Widerstand gegen das Franco-Regime und musste kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach Frankreich fliehen.

Der preisgekrönte Illustrator Aurel verwirklichte im vergangenen Jahr ein emotionales Cartoon-Porträt, das das Schicksal des katalanischen Künstlers im spanischen Bürgerkrieg visualisiert. Der Film "Josep" zeigt, wie 500.000 spanische Republikaner und Republikanerinnen die Pyrenäen überqueren und in Frankreich Zuflucht suchen. Um den Zugang zu regulieren, errichtete die französische Regierung ein Konzentrationslager und schnitt den Flüchtlingen den Zugang zu Wasser und Nahrungsmitteln ab.

So hält Josep die Leiden der Inhaftierten, die Gewalt der Polizei und die Schrecken des Krieges mit allen Mitteln fest, die ihm zur Verfügung stehen. Auf dem Boden oder auf Alltagsgegenständen zeichnet er mit Erde oder Kohle. Dabei entwickelt sich im Laufe des Films eine Freundschaft zwischen dem gefangenen Künstler und einem Polizeiwachmann, der von Joseps Illustrationen sichtlich berührt ist. Schließlich wird der einstige Feind Joseps Ausweg aus der Kriegshölle. Eine poetische Verfilmung über Widerstand, Erinnerung und die rettende Kraft der Kunst.

"Josep", auf Mubi