Streaming-Tipps

11 Kunst-Filme für die Feiertage

Milo Rau "Das Neue Evangelium" (Film Still)
Foto: ®FruitmarketLangfilm, IIPM, Armin Smailovic

Milo Rau "Das Neue Evangelium" (Film Still)

Unsere Streaming-Tipps zum Fest können keine Normalität herbeizaubern, aber zumindest kleine Fluchten ermöglichen: in die Welt der Sprayer, die Renaissance der Home-Videos und (vielleicht) zu den Anfängen des Techno

 

Der globale Siegeszug der Graffiti-Kunst

Zur Zeit ist es vielleicht ein wenig unglücklich, dass im Promotion-Text zur Mini-Serie "The Rise of Graffiti Writing" die Formulierung vorkommt, dass sich die Straßenkunst "wie ein Virus verbreitet" habe. Aber grundsätzlich ist die Metapher nicht ganz falsch - ganz ohne Internet oder soziale Medien ging die Straßen-Kultur sozusagen "viral" und etablierte sich ab den 1970er-Jahren von New York aus auf der ganzen Welt. Die drei Staffeln der Serie "The Rise of Graffiti Writing" verfolgt den Weg der Sprayer nach Europa und lässt die Legenden von damals zu Wort kommen. Mit circa zehn Minuten sind die Episoden so kurz, dass man sich notfalls auch während allzu besinnlichen Feiertagsstunden eine Dosis Freiheitsgefühl abholen kann.

"The Rise of Graffiti Writing", drei Staffeln, Arte-Mediathek, unterschiedlich verfügbar

 

Das Kreuz mit dem Humboldt Forum

Nun ist es also digital geöffnet, das Berliner Humboldt Forum im wiederauferstandenen Berliner Stadtschloss. Was für manche eines der ambitioniertesten Kulturprojekte Europas ist, ist für andere ein neobarockes Millionengrab, das trotz des Anspruchs der Weltoffenheit für die deutsche Verweigerung steht, sich mit der kolonialen Vergangenheit und dem Thema Restitution auseinanderzusetzen. Kurz vor der Eröffnung wurde dies an den Rückgabeforderungen Nigerias für die wertvollen Benin-Bronzen deutlich, die im Schloss gezeigt werden sollen.

Mit der Entstehungsgeschichte und den Kontroversen rund um das Humboldt Forum beschäftigen sich gleich zwei neue Dokumentationen: "Countdown Humboldt Forum" bei 3Sat und "Berlin baut ein Schloss" bei Arte. In beiden Filmen wird deutlich, was für ein gigantisches Projekt das global ausgerichtete Kulturzentrum in preußischer Fassade ist - und welches Potenzial darin steckt. Aber es wird auch der Geburtsfehler des Vorhabens offenbar: dass zuerst der Wiederaufbau des Schlosses beschlossen wurde, ohne, dass es ein Konzept gab, was darin passieren soll.

Und wer die ganze Geschichte nochmal kürzer und polemischer möchte, kann sich natürlich auch Jan Böhmermanns rant über das  "HuFo" im ZDF Magazin Royale anschauen.

"Countdown Humboldt Forum", 3Sat-Mediathek, bis Dezember 2025

"Berlin baut ein Schloss", Arte-Mediathek, bis 31. Dezember

Kuppel des Humboldt Forums mit Kreuz und Reichsapfel vor dem Berliner Fernsehturm
Foto: dpa

Kuppel des Humboldt Forums mit Kreuz und Reichsapfel vor dem Berliner Fernsehturm


Was würde Jesus heute predigen?

Natürlich kann man sich auch dieses Jahr alle bekannten Weihnachtsklassiker im TV abholen, von "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" über "Tatsächlich, Liebe" bis zu "Kevin allein zu Haus" und "Die Feuerzangenbowle". Schwerere Kost, aber auch mehr Raum zum Nachdenken bietet der Film "Das Neue Evangelium" von Regisseur Milo Rau. Er fragt sich, was Jesus heute predigen würde und kommt zu dem Schluss, dass er für die Rechte von Migranten kämpfen würde, die in Italien in der Landwirtschaft ausgebeutet werden.

"Das Neue Evangelium" wurde in Matera gedreht, dem Schauplatz der berühmten Jesusfilme von Mel Gibson ("Die Passion Christi") und Pierre Paolo Pasolini ("Das 1. Evangelium – Matthäus"). Darin vermischen sich die biblische Legende und heutige europäische Realitäten. Den Film  ist online als Stream verfügbar. Ein Teil des Erlöses aus den "Eintrittskarten" (ab 9,99 Euro) kommt Kinos zugute. Digitale Tickets können auch verschenkt werden.

"Das Neue Evangelium", Video on Demand

 



Home Videos sind nicht totzukriegen

Manche Medienformate muss man als Zombies bezeichnen, die einfach nicht totzukriegen sind und immer wieder in neuer Gestalt unser Bewusstsein infiltirieren. Home Videos flimmerten früher in krisseliger VHS-Ästhetik in TV-Shows über die Bildschirme, Plattformen wie Youtube waren vor ihrer Professionalisierung vor allem auch eine Fundgrube für skurrile Amateurfilme.

Und auch auf der Streaming-Plattform Twitch, die vor allem von Gamern genutzt wird, erstehen die gefundenen Bilder wieder auf. Das "Museum of Home Video" stellt jede Woche Collagen aus Found Footage zusammen. Der Initiator Bret Berg aus Los Angeles verfolgt damit das Ziel, das komplette Material, das er in 20 Jahren heruntergeladen hat, wieder in die Öffentlichkeit zurückzuspielen. Die Strategie, durch die Montage von disparaten Bildern aus dem Netz eine neue Bedeutung zu erzeugen, ist inzwischen in der Kunst weit verbreiten. Das Museum of Home Video lässt sich als Archiv einer sich rasant wandelnden Medienöffentlichkeit verstehen. Oder einfach als unwiderstehlicher Strom der Skurrilitäten genießen.

"Museum of Home Video", Twitch

Screenshot aus dem "Museum of Home Video"
Foto: Nickelodeon / Museum of Home Video

Screenshot aus dem "Museum of Home Video"



Ach, Germania!

Der Titel der ZDF-Kultur-Reihe "Germania" ist provokativ in Frakturschrift gesetzt. Dabei geht es genau um das Gegenteil einer völkischen Vorstellung von der homogenen Nation. In einer Reihe von Interviews erzählen bekannte Persönlichkeiten aus Kunst, Musik oder Sport von ihrem Verhältnis zu Deutschland. Die Protagonistinnen und Protagonisten wie Samy Deluxe, Tupoka Ogette, Eunique, Andrea Petkovic oder Neven Subotić, die ganz verschiedene kulturelle Hintergründe haben, sprechen über ihre Biografien und die Frage: Was ist deutsch?

Auch wenn Aktivist*innen immer wieder darauf hinweisen, dass die Debatte um Diversität, Migration und Rassismus in Deutschland nicht nur anhand individueller Geschichten geführt werden sollte, kann man die Serie als Gesprächsreihe mit interessanten Persönlichkeiten schätzen. Das Deutschsein ist nur eine Facette von vielen.

"Germania", ZDF Kultur

Rapperin Eunique in "Germania"
Foto: ZDF

Rapperin Eunique in "Germania"

 

Wer hat den Techno erfunden?

Das "Letzte Kapitel der Musikgeschichte" nennt der Dokumentarfilmer Lars Jessen seinen Film über die Band Fraktus. Eigentlich müsste sie aber heißen: "Der größte Fopp der Musikgeschichte". Die Gruppe Fraktus entstand laut des Films 1980, gegründet von Thomas Bage, Dickie Schubert und Bernd Wand, in Brunsbüttel und hat nach Meinung zahlreicher Musiker*innen "den Techno erfunden". Sie war dem Zeitgeist voraus und fungierte als Vorbild für Westbam, New Order und viele andere. H.P. Baxxter von Scooter hat ihre Songs bei seinen Konzerten gecovert und wäre nach eigenen Angaben ohne Fraktus nie auf die Idee gekommen Musik zu machen. Die Band startete mit Hits wie "Tut-Ench-Amour" und "Affe sucht Liebe", verschwand dann aber 1983 nach einem großen Feuer bei einem Konzert in Hamburg von der Bildfläche. 

Lars Jessen begibt sich auf Spurensuche nach den Anfängen von Fraktus und will ein Comeback initiieren. Eine packende Doku über die Anfänge des Techno? Nein, denn Fraktus hat es nie gegeben. Die Band wurde von Studio Braun erfunden, samt Zeitzeugeninterviews und Musikvideos. Da gilt es nur den Hut vor soviel Mumpitz zu ziehen, sich zurückzulehnen und den ausgedachten 80er-Jahre Techno aus den 2000ern zu würdigen. 

"Fraktus - Das letzte Kapitel der Musikgeschichte" auf Amazon Prime 

 

Pantoffeln statt Prada

2020 hat sich einiges in der Modewelt verändert. Statt High Heels und Anzug verlangten die Menschen nach Pyjama-Chic und Hausschuhen. Inmitten einer Pandemie wird Mode weniger wichtig, denn im Lockdown galt es die Füße still und in Kuschelsocken zu halten. Leonie Wessel beschrieb für Monopol die Probleme der Modewelt in der Pandemie: Überproduktion, unfaire Bezahlung von Arbeitskräften und der Ausfall des Einzelhandels. Mehr Menschen wollten bequeme, fair produzierte Kleidung und nachvollziehbare Lieferketten - und das würde auch so bleiben.

Dieses Jahr ist also vielleicht auch ein Abschied von der Modebranche wie wir sie kennen. Wer sich noch einmal voll in die von Leistungsdruck geplagte Welt der Fashion-Magazine einfühlen will, kann das mit “Der Teufel trägt Prada” von 2006 tun. Die unmodische Andy (Anne Hathaway) versucht sich als Assistentin der fiesen Chefin Miranda Priestley - Meryl Streep spielt sie offensichtlich angelehnt an "Vogue"-Chefin Anna Wintour - im Modemagazin "Runway". Wie bei solchen Filmen erwartbar, pendelt die Handlung zwischen kleinen Erfolgen, größeren Zusammenbrüchen und dem absehbaren Erblühen der Hauptdarstellerin. Aber die Komödie stellt auch die Frage nach Identitäten, Moral, der Vereinbarkeit von Liebe und Beruf und bildet in seichter Art und Weise die Höhen und Tiefen einer gnadenlosen Glamourwelt ab, die 2020 sehr viel weniger wichtig wurde.

"Der Teufel trägt Prada", auf Netflix

Anna Hathaway in "Der Teufel trägt Prada", 2006
Foto: Netflix

Anna Hathaway in "Der Teufel trägt Prada", 2006


Virtueller Kuschelalarm

Ein verlegen grinsender Angestellter, der sich während einer vertrauensschaffenden Teambuilding-Maßnahme rückwärts in die Arme von Kolleginnen und Kollegen fallen lässt. Zwei Kumpel, die in der Sauna anstoßen. Ein Personal Trainer und seine Kundin, die Tandemübungen im Fitnessstudio absolvieren. Freunde, die eng an eng für ein Foto posieren. Das Team der US-amerikanischen Late-Night-Show von Jimmy Kimmel hat zehn Stunden Stockfilm-Schnipsel zusammengeschnittenen und auf YouTube gestellt: Dieses Video kann diese Corona-Weihnachten das gemütliche Lagerfeuer-TV auf dem Fernseher ersetzen. Irgendwann werden wir uns alle wieder umarmen. Bis dahin wirken diese eigentlich doch so sterilen Hochglanzbilder wie unerhörte Grenzüberschreitungen.

"Jimmy Kimmel - Merry Touchmas", Youtube



Der letzte Film mit Chadwick Boseman

Knapp vier Monate nach dem Krebstod von "Black Panther"-Star Chadwick Boseman ist der Schauspieler nun in seiner letzten Rolle zu sehen. In dem Netflix-Film "Ma Rainey's Black Bottom" spielt Boseman einen Jazz-Trompeter in den 1920er-Jahren in Chicago. Viola Davis verkörpert die Blues-Sängerin und Musik-Pionierin Gertrude "Ma" Rainey. Denzel Washington ist Mitproduzent.

Boseman ist im August im Alter von 43 Jahren gestorben. Hollywoods Filmkritiker spekulieren, dass der Schauspieler in der kommenden Filmpreissaison posthum Preise gewinnen könnte. Auch für US-Regisseur Spike Lee war Boseman noch vor die Kamera getreten. In dem Drama "Da 5 Bloods" um Vietnamveteranen, die in den Dschungel zurückkehren, um ihre Kriegserlebnisse aufzuarbeiten, hatte er eine wichtige Nebenrolle. In der vergangenen Woche zeichnete der renommierte New Yorker Filmkritiker-Verband (New York Film Critics Circle) Boseman dafür mit dem Preis als bester Nebendarsteller aus.

"Ma Rainey's Black Bottom", auf Netflix

Chadwick Boseman als Levee in einer Szene aus "Ma Rainey's Black Bottom"
Foto: dpa

Chadwick Boseman als Levee in einer Szene aus "Ma Rainey's Black Bottom"

 

Die Insel der Hunde

Eine Epidemie macht sich breit. Es ist aber nicht das Corona-Virus, sondern das Schnauzenfieber, das alle Hunde in Megasaki City befällt. Diese werden nach Trash Island evakuiert, bis ein Impfstoff gefunden wird und müssen dort um ihr Überleben kämpfen. Im Film "Isle of Dogs" reist der Junge Atari Kobayashi auf die Müllinsel, um seinen Vierbeiner Spots zu finden. Gemeinsam mit anderen Hunden macht er sich auf die Suche, während der sich der Trupp mit Verschwörungen, Fake News und der Politik in Megasaki City auseinandersetzen müssen.

Wie in seinen Spielfilmen, hat der Regisseur Wes Anderson hier eine ganz eigene, streng durchkomponierte Bildsprache geschaffen. Der aufwendig produzierte Stop-Motion-Film bedient sich ästhetisch beim japanischen Holzschnitt des 19. Jahrhunderts und ist in der Struktur an den Kapiteln im Comic orientiert. Aber auch inhaltlich bringt der Film mehr Tiefe mit sich als der erwartete niedliche Hunde-Film. Vielmehr hat Anderson einen streckenweise düsteren Film über Intoleranz, Verschwörungen und die über allem schwebende Frage geschaffen, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen.

"Isle of Dogs - Antaris Reise”, auf Amazon Prime für 3,89 Euro

"Isle of Gods", Filmstill
Foto: Courtesy Searchlight Pictures

"Isle of Dogs", Filmstill

 

Surrealistische Dramen 

Was tun, wenn sich der Feiertagsblues nach Tagen mit der Familie, viel zu viel Essen und dem üblichen Wintermärchen-Marathon einstellt und wir auf das ersehnte Ende von 2020 warten? Die Filme von Alejandro Jodorowsky eignen sich zum Abtauchen in eine surrealistische Bilderwelt, die einer kaum greifbaren Fantasielogik zu folgen scheint.

Der Regisseur mischte surreale, okkulte und psychoanalytische Symbole und erschafft in seinen Filmen eine Mischform aus Theater und Kino für die er in den 1970er-Jahren in der Mitternachtskinoszene berühmt wurde. In einem Schwerpunkt auf Mubi können wir jetzt in einer Auswahl seiner Filme versinken und kehren zu den Anfängen Jodorowskys Karriere zurück. Sein Filmdebüt hatt er mit dem Werk "Fando y Lis", das dem absurden Theater nachempfunden ist und in dem die querschnittsgelähmte Lis von ihrem Partner Fando durch eine postapokalyptische Welt geschoben wird. Der Film sorgte bei der Uraufführung 1968 aufgrund seines Umgangs mit religiöser Symbolik für einen Aufschrei in Produktionsland Mexiko und wurde anschließend verboten. Bekannt wurde Jodorowsky zwei Jahre später mit dem Acid-Western "El Topo", in dem ein in schwarzes Leder gekleideter Revolverheld mit Gottkomplex durch eine Wüste zieht, die vor Symbolik nur so staubt und voll von skurrilen Menschen ist.

Jodorowskys Filme sind keine leichte Feiertagskost. Sie ziehen uns aus dem momentan viel zu kunstlosen Alltag in surrealistischen Bilderwelten und konfrontieren ihr Publikum mit essentiellen Fragen nach Liebe, Tod, Religion und Magie - genau das richtige für einen Feiertagsblues.

"Das Psychomagische Kino des Alejandro Jodorowsky" auf Mubi