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15 Kunst-Highlights aus 15 Jahren Youtube

Jaakko Pallasvuo "None of The World's Futures", 2016
Screenshot via Youtube
Jaakko Pallasvuo "None of The World's Futures", 2016

Am 23. April vor 15 Jahren wurde das erste Video auf Youtube hochgeladen. Seither hat sich auf der Plattform einiges getan – ein Resümee in 15 Video-Kunstwerken

Ryan Trecartin "I-Be Area", 2005


Mit seiner Serie "I-Be Area" war Ryan Trecartin seiner Zeit weit voraus. Während sich die Serie zu Beginn der Nullerjahre noch überwältigend übersteuert und laut anfühlte, stehen viele heutig populäre Youtuber ihren hysterischen Protagonistinnen und Protagonisten um wenig nach. "My second dilemma: the same as the first. Okay. Part two. Look. I wrote a letter to my future self", ruft eine bunt geschminkte Figur mit agressiv emphasenreicher Intonation in die Kamera und scheint dabei die Semantik heutiger Selbstverbesserungs-Vlogs vorauszusagen. 

Oliver Laric "787 Cliparts", 2006


Ähnlich wie Memes und Emojis entsteht Clip Art in größtenteils anonymer und kollektiver Autorenschaft – genau das findet Oliver Laric an ihnen faszinierend. Seine Arbeit, in der er von ihnen zusammenschneidet, stellt er auf seiner Website zum freien Download zur Verfügung. Dass das Video auf der Youtube-Frontpage landete, nannte er einmal seinen stolzesten Moment: "Millionen Menschen haben es gesehen. Das ist genauso real, wie es in einem Museum zu zeigen."


Martin Kohout "Moonwalk", 2008


Martin Kohouts "Moonwalk" ist eine Meditation auf YouTube selbst. Die Videoarbeit funktionierte eingebettet ins 2008er Youtube-Interface noch besser. Dass der Generationsverlust des Re-Uploads hier einen meditativ verschwimmenden Horizont erzeugt, ist aber auch heute noch genial. 


Ann Hirsch "scandalishious", 2008-2010


In den frühen Youtube-Jahren entdeckten Performancekünstler die Plattform für sich. Im Geiste von lonelygirl15, einer Vloggerin, die in ihrem Teenie-Zimmer Videos drehte und sich nach wenigen Monaten von als Schauspielerin einer Webserie entpuppte, entwickelten Künstlerinnen verschiedene Online-Figuren. Jayson Musson teilte als Art Bro Henessy Youngman seine slanggespickten "ART THOUGHTZ" mit der Welt ("Art versus the Real, that's a big fuckin' polemic, son") und Ann Hirsch nahm mit dem Stoner Jason Biddies und der Künstlerin Caroline, die quirky durch ihr Zimmer tanzte und zuckersüß dümmliche Monologe vor ihrer Webcam führte. 

Cory Arcangel "Arnold Schoenberg, op. 11 - I - Cute Kittens", 2010


Was wäre eine Youtube-Geburtstagsliste ohne Cat Content? Cory Arcangel hat auf der Plattform gefundene Aufnahmen von Katzen auf Klavieren so zusammengeschnitten, dass sie Arnold Schönbergs "Drei Klavierstücke, op. 11-I" spielen und so auf niedlichste Weise Hoch- und Populärkultur vereint.
 

Christen Bach "Bear Untitled", 2010


Jäger liebt Bär: Mit diesem 8-Bit-Drama in einem Akt gewann Christen Bach 2010 die erste und einzige Ausgabe der von der Guggenheim Foundation organisierten YouTube-Biennale. Die ziemlich lange Shortlist des Wettbewerbs ist nach wie vor online.


OK Go "This Too Shall Pass", 2010


Mit der Laufband-Choreografie zu ihrem Song "Here It Goes Again" landete die Band OK Go einen der ersten viralen Youtube-Hits. In ausgefallenen, klickstarken Musikvideos fanden die vier Amerikaner ihre Nische. 2010 ließen sie sich von Fischli / Weiss‘ "Der Lauf der Dinge" zu einer Riesen-Kettenreaktion inspirieren.


Signe Pierce "AMERICAN REFLEXXX", 2013

 

Für als weiblich gelesene Personen, die sich allein durch den Stadtraum bewegen, sind verbale Übergriffe Alltag. Das millionenfach angeklickte Video "10 Hours of Walking in NYC as a Woman" zeigte das mit aller Deutlichkeit und erzeugte Mitte der 2010er-Jahre eine Welle der Catcalling-Selbstexperiment-Videos. Als die Medienkünstlerin Signe Pierce in Stripper-Kleid und reflektierenden Gesichtsmaske eine Partymeile in South Carolina herunterstolzierte, wurde sie belästigt, beschimpft und körperlich angegriffen. Unter bunten Neonlichtern hält Pierce ihrem schockierend brutalen Umfeld in dem von Alli Coates gedrehten Video den Spiegel vor. 


Amalia Ulman "The Future Ahead - Improvements for the further masculinization of prepubescent boys", 2013


In dieser Lecture-Performance im Stil eines Verschwörungstheorie-Videos untersucht Amalia Ulman die Gender-Zuschreibungen, mit denen sich Justin Bieber während seines öffentlichen Erwachsenwerdens konfrontiert sah und erklärt die wahlweise botoxglatte oder nachdenklich gerunzelte Stirn zur Geschlechterkampfzone.

 

W Magazine "Gigi Hadid and Kendall Jenner Try Performance Art (Bloopers and Outtakes)", 2016


Mit dem Alter wurde der Youtube-Algorithmus langweiliger und bevorzugte professionelle, von Medienkonzernen und Celebrities produzierte Inhalte. Hollywood-Stars nutzen ihre Youtube-Präsenz, um nahbarer zu wirken. Will Smith filmt Familien-Vlogs, Kylie Jenner gibt Schminktipps und ihre Schwester Kendall spielt gemeinsam mit ihrer Model-Freundin Gigi Hadid die Geschichte der Performancekunst nach. Jenners halbironischer Selbstversuch als Künstlerin erntete reichlich Spott, verweist aber ebenso wie ein Videoclip, in dem ihre Mutter Kris Jenner den berühmten Architekten "Le Courvoisier" (sic!) anpreist, auf die gestiegene Bedeutung zeitgenössischer Kunst in der Popkultur.

Jaakko Pallasvuo "None of The World's Futures", 2016


Obwohl die Vorschlagsfunktion einen längst nicht mehr in so seltsam unterhaltsame Loopholes befördert wie in den Anfangsjahren der Plattform, findet man auch heute gelegentlich noch kleine Schätze wie den Kanal von Jaakko Pallasvuo. Der finnische Künstler nutzt Youtube als eine Art Videotagebuch und setzt sich mit kompromissloser Emotionalität und begleitet von einfallsreichen Animationen mit Kreativität und Kunstsystem auseinander. 

Natalie Wynn "Incels", 2018


Nachdem Youtube 2010 das Upload-Zeitlimit von 15 Minuten aufhob, entstand auf der Website ein neues Format: der Video-Essay. Accounts wie Every Frame A Painting verbanden kulturelle Analysen mit audiovisuellem Storytelling. Auf ihrem Channel ContraPoints erhebt Natalie Wynn den Video-Essay zur Kunst: In opulenter Formsprache  lässt sie verschiedene selbstgespielte Charaktere in Platonischen Dialogen über politische Themen diskutieren. In ihrem bis heute erfolgreichsten Video setzt sie sich mit der toxischen Internet-Subkultur der Incels auseinander und nähert sich über ihre eigenen Dysphorie-Erfahrungen als Trans-Frau den fatalistischen Denkmustern der Unfreiwillig Zölibatären (Involuntary Celibates) an.

 

Simon Weckert "Google Maps Hacks", 2020


Knapp zwei Millionen Menschen haben sich das Youtube-Video angeschaut, in dem Simon Weckert einen mit 99 Smartphones beladenen Bollerwagen durch die Straßen Berlins zieht und so Google Maps einen Stau vorgaukelt. Während der Berliner Künstler gemächlich den Mittelstreifen der Ebertbrücke in Mitte entlang wandert und am Hauptquartier der Youtube-Mutterkonzerns Google vorbei spaziert, verfärben sich die Straßenabschnitte, auf denen er unterwegs ist, rot –  ein Indikator für Stau. Im Kommentarbereich führen Nutzer elaborierte Diskussionen darüber, ob Weckerts Methode tatsächlich funktioniert. Ein unterhaltsames Spiel mit den Logiken des Internets ist das Video so oder so.

Will Benedict "Balenciaga Summer 20 Campaign", 2020


Wie kaum ein anderer Designer beherrscht Demna Gvasalia die Kunst des Viralgehens. Die Werbeclips, die er von Künstlerinnen und Künstlern Balenciaga produzieren lässt, verdienen mindestens genauso viel Aufmerksamkeit wie die Plattform-Crocs des französischen Labels. Nach Diamond Stingilys berührend alltäglichen Kampagnenfilm und Jon Rafmans "Hackers"-esquem Cyberpunk-Video lieferte Will Benedict ein dystopisches Nonsens-Newscycle-Werk, das mit seiner bizarren Weltuntergangsstimmung beunruhigend gut in die aktuelle Saison passt.


4096 "The Evolution of Youtube", 2017


Das Video des Users 4069 zeichnet die Entwicklung Youtubes nach. Über die Jahre ist die Website aufgeräumter und professioneller geworden. Ein Stück weit lässt sich das mit der allgemeinen Weiterentwicklung der Online-Kultur begründen: Der Slang-Overkill ist aus den Videobeschreibungen verschwunden, wir haben aufgehört, Groß- und Kleinschreibung munter durcheinanderzuwürfeln und Pluralformen von Nomen mit einem Z statt einem S zu beenden. Doch was die Plattform am nachhaltigsten veränderte, ist die Tatsache, dass sich mit Klicks Geld verdienen lässt. Der Algorithmus belohnt werbekundenfreundliche Inhalte und regelmäßige, kontinuierliche Uploads, auf der Front Page werden vornehmlich Lifehacks, Filmtrailer und Talkshow-Clips vorgestellt. Aktuell sind elf der 15 erfolgreichsten Youtube-Videos Musikvideos, der Rest von Content-Farmen produzierte Kinderlieder, die einem Fiebertraum entsprungen scheinen. Junge Heimproduzenten sind auf Apps wie Tiktok umgezogen. Wann diese Plattform wohl ihr erstes Kunstwerk hervorbringt?