Zeitwahrnehmung in der Corona-Krise

2021 ist das neue 2020

Olympia 2020 in Tokio wird Olympia 2021... oder doch nicht
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Olympia 2020 in Tokio wird Olympia 2021 ... oder doch nicht

Der Ausnahmezustand durch die Covid-19-Pandemie beeinflusst gerade jeden Aspekt des Lebens. Auch unser Konzept von Zeit funktioniert nicht mehr. Vielleicht sollte man 2020 einfach auf nächstes Jahr verschieben

"Die Welt ist mehr Nichtkrise als Krise", schrieb der Philosoph Odo Marquard in "Skepsis in der Moderne" von 2007. "Sie ist gewiss nicht der Himmel auf Erden, aber auch nicht die Hölle auf Erden, sondern die Erde auf Erden." Im Moment steht dieser eher nüchtern-realistischen Einschätzung der irdischen Existenz ein globaler Ausnahmezustand gegenüber, der nach neuen Zahlen der Nachrichtenagentur AFP ein Drittel der Weltbevölkerung mit Ausgangsbeschränkungen belegt und nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens berührt.

Sogar die Vorstellung von Zeit, ein ohnehin fragiles Konstrukt, wird von der Covid-19-Pandemie verändert. So finden die Olympischen Sommerspiele in Tokio nach langem Totstellen des IOC nun erst 2021 statt. Allerdings werden sie aus kommerziellen Gründen weiter "Tokio 2020" heißen - das Merchandise ist schon hergestellt, die Marke gesichert. Das Jahr 2020 wird also kurzerhand um ein Jahr verschoben. Die Maßnahme mag pragmatisch motiviert sein, mutet aber so konzeptionell und Science-Fiction-haft an, dass sie auch für einen klassischen Zeitreise-Film plausibel erscheint.

Ein ganzes Jahr wird verlegt

Eigentlich zeichnet sich eine Krise (der deutsche Begriff wurde zuerst in der Medizin für den Wendepunkt einer fiebrigen Erkrankung benutzt) auch durch ihre zeitliche Beschränkung aus. Weil aber niemand weiß, wie lange die derzeitige Ausnahmesituation dauern wird, scheint gerade ein ganzes Jahr in die Zukunft verlegt zu werden. Auch Kunsthäuser wie die Berlinische Galerie verschieben ihre Frühlingsausstellungen bereits nach 2021. Die Zukunft wirkt in Corona-Zeiten wie das Versprechen auf Nachholen einer verpassten Gegenwart. Die Kulturwelt drückt kollektiv auf Pause und schürt gleichzeitig die Hoffnung auf ein Rewind, um Versäumtes doch noch erleben zu können. Man hofft auf nachgeholte Normalität, obwohl niemand weiß, was 2021 "normal" heißt.

Seit den 1990er-Jahren gibt es die sogenannte "Phantomzeittheorie" des Autors Heribert Illig, die davon ausgeht, dass gut 300 Jahre im Mittelalter nie stattgefunden haben. Demnach hat Karl der Große nicht existiert und war eine Erfindung des Papstes im Rom. Nach Illigs Erkenntnissen, die Verschwörungstheoretiker bis heute lieben, leben wir heute gar nicht im Jahr 2020, sondern erst in 1723. Bei einer solch großen Diskrepanz könnte man das aktuelle Krisenjahr vielleicht auch noch unter den Tisch fallen lassen und nochmal neu anfangen.

Doch auch ohne solch historische Manipulationstheorien lassen sich auf einmal verschiedene Tempi in der hochbeschleunigten Gegenwart beobachten. Einerseits ist im Kampf gegen das Coronavirus oft von einem "Wettlauf gegen die Zeit" die Rede, andererseits ist ein Großteil der Welt zwangsentschleunigt, dehnen sich Tage gefühlt zu Wochen und Monaten aus. Was Anfang 2020 die Nachrichten in Deutschland bestimmt hat - die Lage der Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen, der Krieg in Syrien, der Vorwahlkampf der US-Demokraten, die Grundrente - klingt nun nach ferner Vergangenheit. Während sich die ersten öffentlich Gedanken über die Zeit nach dem Lockdown machen (oder Donald Trump von "vollen Kirchen zu Ostern" träumt), pfeifen Wissenschaftler Optimisten zurück und erinnern daran, dass wir erst am Anfang der Pandemie stehen. Auch Gesundheitsminister Jens Spahn sprach am Donnerstag von der "Ruhe vor dem Sturm". Eine Ruhe, die Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegesektor bereits als Hurrikan empfinden dürften.

Die Planung des Unplanbaren

Der Professor für Politische Soziologie Sven Opitz erklärt in der "Süddeutschen Zeitung", wie in Pandemie-Strategien der WHO die Zukunft als etwas Katastrophisches gedacht wird. "Es geht um die Planung des Unplanbaren", sagt der Wissenschaftler von der Philipps-Universität in Marburg. "Man richtet sich auf Krankheiten ein, die noch nicht bekannt sind und plötzlich auftauchen. Deshalb arbeitet man mit Szenarien, also nicht mit Prognosen, die einen Zukunftsverlauf exakt angeben wollen."

Dieses Vorgehen der Gesundheitsbehörden ähnelt damit im Ansatz damit dem Spekulativen Realismus, der gerade in Philosophie, Kunst und Design Konjunktur hat. Dabei geht es unter anderem darum, Spekulation nicht als haltlos abzutun, sondern sie als Möglichkeit der Gestaltung zu betrachten. Wenn man sieht, wie derzeit eine winzige organische Struktur wie das Sars-Cov-2-Virus menschliche Konzepte von Fortschritt und Mobilität zum Einsturz bringt, liegt es nahe, den homo sapiens vielleicht doch nicht als alleiniges Zentrum des Universums zu begreifen. 

Die Disruption der Berechenbarkeit ist seit jeher ein Spezialgebiet der Kunst. Und so könnte die gegenwärtige Unsicherheit, in der jeder mutmaßt und phantasieren muss, einen Schub für Kreativität bedeuten. Wie sich die Situation jedoch auf jeden einzelnen auswirkt, ist allerdings maßgeblich von den ökonomischen Voraussetzungen abhängig. Ist man finanziell abgesichert und gesund, kann man die derzeitige Lage durchaus als geschenkte Zeit empfinden. Wer seine Lebensgrundlage verliert oder schon verloren hat, empfindet das derzeitige Geschehen als existenzielle Krise, der mit Marquard'scher Abwägung nicht beizukommen ist. Das Herunterfahren des öffentlichen Lebens kann ein Schluckauf im vorhersehbaren Lauf der Zeit sein oder ein tiefer Einschnitt mit langfristigen Folgen. Auch hier zersplittern die Erfahrungen in unserer Zeit.