50 Jahre "Der Weiße Hai"

Sein Gebiss lässt nicht locker

Ein dunkler Ton, ein finsterer Schatten – vor 50 Jahren kam der Schrecken aus der Tiefe. Steven Spielbergs "Weißer Hai" veränderte das Kino – und unser Verhältnis zum Meer

Die Kontrabässe spielen E und F. Zwei Noten, ein Halbtonschritt, erst langsam, dann zunehmend schneller wechselnd. Dazu Bilder aus Hai-Perspektive; der Raubfisch auf nächtlicher Unterwasserpirsch. Celli, Posaunen, Hörner, Violinen, Klarinetten, Trompeten und ein Xylophon beteiligen sich an der Jagdmusik von John Williams. 

Ein Jungregisseur namens Steven Spielberg fühlte sich verschaukelt, als der Filmkomponist ihm das minimalistische Basisthema auf dem Klavier vorspielte - und gab ihm später recht: Die Brummton-Kombination aus E und F rührt effektiv an unser Angst vor der Tiefe und dem Ungeheuerlichen. Williams' Score ist die kongeniale musikalische Entsprechung zum Thalassophobie-Klassiker schlechthin. Im Juni vor 50 Jahren startete "Jaws" (zu deutsch: "Kiefer" oder "Rachen") in den US-Kinos, in der BRD lief "Der weiße Hai" am 18. Dezember 1975 an.

Im Kinobetrieb der DDR kam der erste Blockbuster der Filmgeschichte nicht vor. Es wäre wohl übertrieben, aus dieser Leerstelle die Unterschiede in der Badekultur beider deutscher Staaten zu erklären. Scherzfrage: Gab es in Ostdeutschland mehr FFK-Fans, weil kaum jemand fürchtete, von Haien angeknabbert zu werden? Ernsthafte Frage: Warum ging an westdeutschen Gewässern ab der Badesaison 1976 die Haiangst um, wenn nie ein Haiangriff in der Nord- oder Ostsee dokumentiert wurde? Die Antwort lautet: Spielberg.

Ein Hai namens "Bruce"

Raffiniert verband der damals 27-jährige Regisseur Abenteuer-Stoffe wie "Moby Dick" mit Motiven des in den 1970ern sehr beliebten Katastrophengenres, das Ganze gewürzt mit einer kräftigen Dosis Tierhorror. Zu seinen Inspirationsquellen gehörten "Die Vögel", ein Film, mit dem Alfred Hitchcock zehn Jahre zuvor eine globale Ornithophobie-Welle ausgelöst hatte. Beeinflusst hat ihn sicher auch Hitchcocks "Psycho", der dazu führte, dass viele Menschen Angst vor Motels und vor dem Duschen entwickelten. 

Nun ist die Befürchtung, unter der Brause erstochen oder von Seemöven tödlich verletzt zu werden, noch weiter hergeholt als die Angst, als Fischfutter zu enden. Aber die Panik vor dem Weißen Hai griff Mitte der 1970er auch in Badeseen und Freibädern um sich. Angst ist ein schlechter Ratgeber, aber ein mächtiger Influencer. Auch in den USA ist die Haigefahr nicht eben riesig. Nachrichten wie die vom 25. Juni um einen bissigen Sandtigerhai auf Long Island verbreiten sich allerdings rasch...Wie auch immer: Spielberg erwies sich vor 50 Jahren als der richtige Mann, die Angst vor einem maritimen Monster zu schüren.

Die Dreharbeiten gestalteten sich extrem schwierig. 55 Drehtage waren angesetzt, schließlich waren es 159. Der mechanische Hai, den Spielberg (nach dem Vornamen seines Scheidungsanwalts) "Bruce" nannte, war ein weitgehend seeuntüchtiges Ungeheuer. Bruce ist nur in wenigen Einstellungen zu sehen, als Ersatz für den dysfunktionalen Fisch wurden echte Haie vor Australien gefilmt. Am Ende verdankte sich die enorme Wirkung des Films den filmischen Qualitäten (Inszenierung, Kamera, Schnitt, Musik) und dem Wissen Spielbergs darum, dass die Vorstellungskraft des Publikums die monströsesten Monster gebiert.

Die richtige Dosis Tierterror

Es fängt mit einer Flirtszene am Lagerfeuer an. Junge Leute am nächtlichen Strand. Mondlicht über dem Atlantik. Ein Typ läuft hinter einer lockenden Frau her, ist aber zu betrunken, um gemeinsam mit ihr ein Bad zu nehmen. Sie schwimmt allein. Und eben doch nicht allein, was die Unterwasserperspektive enthüllt. Der Kameraschuss auf die Beine der Schwimmerin ist aus der unheimlichen "Liebes"-Szene aus Jack Arnolds "Schrecken vom Amazonas" entlehnt. Der tödliche Angriff wird nur über der Wasseroberfläche gezeigt. Ein Zucken (Wer zieht da an meinem Zeh?), ein Herumgeschleudertwerden, ein verzweifeltes Haltsuchen an einer Boje. Dann ein letzter Plumps und schreckerfüllte Stille. Als wollte das Meer sagen: Schwamm drüber!

 Nach diesem furchterregenden Anfang lernen wir Chief Brody (Roy Scheider) kennen, den Inselpolizisten von Amity, der sich früh über den Killerhai schlau macht, aber den Bürgermeister und die Ortsgemeinschaft gegen sich aufbringt. Was ist wichtiger: Florierender Tourismus oder Menschenleben? 

Wohldosiert verteilt Spielberg mehrere Haiangriffe über die erste Filmhälfte, wobei er uns kaum mehr als die Haiflosse zeigt. Fehlalarm gibt's auch (ein dummer Kinderstreich mit falscher Flosse), dann aber kommt ein Kind bei bestem Badewetter ums Leben. Chief Brody sieht das mit Abstand vom Strand aus, als Blutfontäne. Dann wird eine zerfetzte gelbe Luftmatratze angeschwemmt. Jetzt ist Schluss mit der Abwiegelei: Amity bläst zur Haijagd. Ein ziemlich großer Fisch am Hobbyanglerhaken wird zum Täter erklärt. Auch das: ein red herring, eine falsche Fährte. 

Der "Jaws-Effekt"

An der munteren Angeltour nicht beteiligt: der wasserscheue Brody, der Meeresbiologe Matt Hooper (Richard Dreyfuss) und der bärbeißige Hochseefischer Quint (Robert Shaw). Als das Morden weitergeht, besteigt das ungleiche Trio den Fischkutter "Orca", um den Weißen Hai wirklich zur Strecke zu bringen. Die Story wechselt ins Abenteuergenre. Drei Mann in einem Boot. Brodys unvergesslicher Satz nach der Haisichtung: "We’re gonna need a bigger boat". 

Quint (alte Seebärenschule) und Hooper (mopsiger Akademiker mit viel Equipment) traut man die Exekution – in dieser Reihenfolge – am ehesten zu. Quint wird gefressen, Hooper scheitert, ausgerechnet Brody schafft's. Was Fortsetzungen leider nicht verhinderte: Drei "Jaws"-Sequels bis 1987 und danach Trash wie "Der weiße Hai in Venedig" oder "Sharknado", eine ziemlich lustige Version mit in der Luft herumwirbelnden Killerfischen, die quasi aus heiterem Himmel morden.

Spielberg war an all dem nicht beteiligt. Er dreht nur den originalen "Weißen Hai", der seinen Ruhm als Hollywood-Wunderkind begründete. Der Plot folgt weitgehend dem Roman "Jaws", dessen Rechte sich die Produzenten Richard D. Zanuck und David Brown bereits vor der Buchveröffentlichung gesichert hatten. Zu Spielbergs Dämonisierung des Weißen Hais als Killermaschine äußerte sich der Romanautor Peter Benchley später kritisch. 

In der Tat hat der "Jaws-Effekt", der neben der Galeophobie (Hai-Panik) zu einem Boom der Sportfischerei auf Haie führte, mit dazu geführt, dass die Population ozanischer Haie seit den 1970ern um 71 Prozent zurückgegangen ist. Darüber hat auch Spielberg selbst mehrmals sein Bedauern ausgedrückt. Er ist natürlich nicht alleine schuld. 

Die Verkörperung von Lebensgefahr 

Letzlich gilt für Carcharodon carcharias, den Weißen Hai, die allgemeine Täter-Opfer-Umkehr, die sich in der ökologischen Krise noch verstärken könnte: Der Mensch, die selbsternannte "Krone der Schöpfung", muss sich gegen die böse Natur behaupten, gegen Tropenstürme, Riesenspinnen oder Haie. Wahr ist dagegen, mit Sophokles: Vieles ist ungeheuer, doch nichts ungeheurer als der Mensch.

Zurzeit sind übrigens diverse Badestrände an der US-Ostküste gesperrt. Seit Anfang Juli flattern Absperrbänder an über 20 Stränden in Massachusetts. Die Gefahr für Badende geht hauptsächlich von Cyanobakterien aus, die sich durch Abwässer vermehren. Da Bakterien aber kein so tolles Horrorfilmmotiv hergeben, bleibt es weiter an den Haien kleben. Im September beginnen die Dreharbeiten für den zweiten Teil des Netflix-Thrillers "Im Wasser der Seine", darin treibt ein gefräßiger Hai sein Unwesen. 

Im Streaming- und DVD-Angebot sind ferner der deutsche Horrorfilm "Shark Warning", in dem ein Dammbruch den Weg des Monsters in eine Badelagune frei macht, und "Into The Deep". Dort begibt sich auch der greise Richard Dreyfuss ins Haifischbecken, Spielbergs Lieblingsschauspieler. John Williams' berühmtes Hai-Motiv aus E und F wird in dem Neuaufguss, da zu Tode zitiert, nicht mehr vorkommen. Der Weiße Hai ist als Verkörperung von Lebensgefahr bleibt dagegen unsterblich, ganz im Gegenteil zu den echten Fischen.