Fazit zur 73. Berlinale

Nicht allzuviele Highlights

Der Wettbewerb der 73. Berlinale war etwas nüchtern geraten. Am Ende haben aber meist die Richtigen die Bären gewonnen. Einige Auszeichnungen sind wiederum kaum nachvollziehbar

Zum Beispiel Frédéric: Er trägt Sakko und Seidenschal, wirkt wie ein Dandy und hält lange Vorträge über Wim Wenders, Vincent van Gogh und Jim Morrison. Eigentlich ist er Psychiatriepatient. Aber auf der "Adamant", einer schwimmenden Tagesklinik für psychisch kranke Menschen, wird nicht von "Patienten" und schon gar nicht von "Insassen" gesprochen. Wer sich hier, auf einem ehemaligen, nun am Seine-Ufer fest vertäuten Frachtschiff in die Obhut des geschulten Personals begibt, kommt morgens freiwillig her und geht abends wieder von Bord. Über das Tagesprogramm wird gemeinsam abgestimmt, Malerei, Musik, gemeinsames Kochen oder ein Film-Club sind im Angebot. "Sur l’Adamant" des französischen Regisseurs Nicolas Philibert ist der einzige Dokumentarfilm im Wettbewerb der 73. Berlinale – und hat den einzigen Goldenen Bären gewonnen, den die von Kristen Stewart geleitete Jury zu vergeben hatte.

Ein fast salomonisches Urteil, denn als Außenseiter neben durchweg fiktionalen Stoffen muss sich "Sur l’Adamant" keinem direkten Vergleich stellen. Es sei denn, man vergleicht ihn mit Claire Simons ebenso in Paris siedelnden Dokumentarfilm "Notre Corps" über Patientinnen einer gynäkologischen Klinik, der doch um einiges tiefer in die Biografien der Menschen, die dem Arztpersonal ihre Symptome und Lebenssituationen schildern, eintauchte. "Notre Corps" lief allerdings im Forum und stand nicht zur Bärenwahl. Philibert, Jahrgang 1951, dürfte wiederum auch für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden sein. Über 30 Dokumentarfilme hat der Franzose seit Ende der 1970ern gedreht. Auf den Internationalen Filmfestspielen von 2013 lief sein "Maison de la Radio" noch im Forum.

Ein großer Triumph für Christian Petzold ist die traditionell zweitwichtigste Trophäe, ein Silberner Bär als "Großer Preis der Jury". Souverän, spannungsreich und voller Humor umschifft der deutsche Filmemacher die sich in "Roter Himmel" am Horizont zusammenbrauende Brandkatastrophe, um lieber von der Lust am Leben und am Zusammensein zu erzählen. Vier junge Leute (Paula Beer, Thomas Schubert, Langston Uibel, Enno Trebs) und ein Älterer (Matthias Brandt) treffen an der Ostsee zusammen, lassen sich treiben, erzählen sich Geschichten – oder stoßen an die Grenzen der Planbarkeit. "Carpe diem" könnte das Motto dieses wunderleichten Sommerfilms sein. "Nutze den Tag" würde der arbeitsversessene, von Thomas Schubert gespielte Leon sagen. Petzold (hier im Interview über den Film) übersetzt den lateinischen Spruch offensichtlich anders: "Genieße den Tag".

Kaum nachvollziehbar der Silberne Bär für Philippe Garrel

Ein Genuss ist auch der mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnete Film "Music" der deutschen Regisseurin Angela Schanelec, die wie Petzold zur "Berliner Schule" gezählt wurde. So abgegriffen das Label inzwischen auch ist, das Lakonische und die Kargheit prägen auch "Music", der in Griechenland und Berlin spielt und lose auf dem Ödipus-Mythos basiert. In einer Felslandschaft passiert ein Unglück, ein Kind wird geboren, ein junger Mann erschlägt einen anderen, der Täter muss ins Gefängnis, eine Wärterin verliebt sich in ihn, später springt sie in den Tod. Es sind winzige, für die Story irrelevante Details, die unvergesslich bleiben: Wenn sich ein Salamander an den Knöchel der springenden Protagonistin krallt, wenn ein Radfahrer in letzter Sekunde durch ein sich schließendes Gefängnistor flitzt. Die Erzählung bleibt offen, setzt sich in den Köpfen des Publikums zusammen – oder auch nicht. Viele lose Fäden bleiben. Schanelecs Film punktet mit einer schillernde Offenheit, die dem Kino gut ansteht, die im Kino aber höchst selten zu erleben ist.

Kaum nachvollziehbar der Silberne Bär für Philippe Garrel – es sei denn, man wertet den Regiepreis als Auszeichnung für einen verdienten Altmeister. "Le Grand Chariot" erzählt melancholisch bis verschnarcht von zwei Generationen einer Puppenspielerfamilie. Als der Gründer gestorben ist, übernehmen seine beiden Töchter. Warum sie das Familienunternehmen weiterführen, versteht man nicht. Während Christian Petzold leicht im Geist des großen Franzosen Eric Rohmer erzählt, hat Garrel hier ein bleischweres Drama geschultert, das ein bisschen an deutsche Fernsehspiele der 1970er erinnert.

Packend wirkte dagegen das Psychodrama "Mal Viver" des portugiesischen Filmemachers João Canijo, der dafür einen Silbernen Bären bekam. Während der Wettbewerbsfilm von mehreren Frauen erzählt, die ein altes Hotel führen, lief in der Reihe "Encounters" Canijos parallel gedrehtes Gegenstück "Viver Mal", der sich um die Hotelgäste dreht, die an den Konflikten der Betreiberinnen mehr oder weniger teilhaben.

"Encounters"-Sektion wird zunehmend fraglich

Im vierten Jahr "Encounters" ist der Sinn der von Carlo Chatrian im Alleingang kuratierten Sektion zunehmend fraglicher geworden. Der Eindruck erhärtet sich, dass die Nebenreihe den Wettbewerb schwächt, indem viele künstlerisch interessante Filme in die "Encounters" umgeleitet werden. Warum? Zugleich läuft in der "Königsklasse" zuviel Mittelmaß: Emily Atefs "Irgendwann werden wir uns alles erzählen" um eine Amour fou im Bauernmilieu der untergehenden DDR sowie Margarete von Trottas "Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste" waren zu kraftlos für den Wettbewerb, in dem diesmal offenbar versucht wurde, auf Biegen und Brechen das deutsche Filmschaffen aufs Podest zu heben. Cannes und Venedig lassen grüßen. Doch nicht jede Tradition ist importfähig, vor allem, wenn es sich um eine schlechte Tradition handelt.

Der fünfte deutsche Film, Christoph Hochhäuslers "Bis ans Ende der Nacht", bot indes alles andere als eine Enttäuschung. Der Genrefilm (der die Regeln des Genres freilich immer wieder unterlief) um die komplizierte Beziehung eines verdeckten Ermittlers mit einer Transfrau, die als Scheinpaar einen Drogenhändler zur Strecke bringen sollen, war nicht nur stark, sondern wurde auch mit einem Silbernen Bären gewürdigt. Thea Ehre, die die beherzte Leni verkörpert, die mal ein Mann war, der vom Polizisten Robert geliebt wurde, hat den Darstellerpreis absolut verdient.

Unter Tränen nahm die kleine Sofía Otero den Silbernen Bären für ihre Darstellung eines Achtjährigen, der lieber ein Mädchen sein will, in dem Film "20.000 especies de abejas" ("20.000 Bienen-Arten") entgegen. Eine gute Wahl, war Estibaliz Urresola Solagurens spanische Produktion doch etwas zu umständlich erzählt, um als Gesamtpaket überzeugen zu können. Ganz im Gegenteil dazu war "Disco Boy" – mit einem fantastischen Franz Rogowski als Hauptdarsteller – ein Wettbewerbsfilm, der rundum stark war. Für viele war das der große Favorit in diesem Wettbewerb, in dem es nicht allzuviele Highlights gab. Immerhin kann die "Disco Boy"-Kamerafrau Hélène Louvart einen Silbernen Bären mit nach Hause nehmen. Sie hat diese insgesamt etwas nüchterne Berlinale mit delirierenden Bilder geimpft. Das nächste Festival wird dann stärker.