Filmfestival Venedig

Exemplarisch leidende Figuren

Kristen Stewart als Prinzessin Diana im Film "Spencer"
Foto: KomplizenFilm/DCM/dpa

Kristen Stewart als Prinzessin Diana im Film "Spencer"

Bei den Filmfestspielen von Venedig dominieren leidende Figuren wie die überragende Kristen Stewart als Princess Diana. Vier Highlights aus dem bisherigen Programm

1993 war sie die erste Regisseurin für die Goldene Palme des Filmfestivals von Cannes – mit "Das Piano". Jetzt ist die neuseeländische Filmemacherin Jane Campion nach langer Leinwand-Absenz zurück, ihr vorheriger Kinofilm, "Bright Star", entstand schon 2009. Das Westerndrama "The Power of the Dog" ist ein großartiger Wettbewerbsbeitrag für Venedig, zusammen mit Paolo Sorrentinos – eher durchwachsener – Elegie über seine Heimat Neapel ist Campions Film einer von zwei "Netflix Originals", die der Streaminganbieter nach Venedig geschickt hat. Auf der Pressekonferenz am Lido erzählt die Regisseurin, wie sie Netflix das Versprechen abtrotzte, den Film ins Kino zu bringen. Sie weiß nur zu gut, dass das sperrige Werk abseits der Leinwände kaum eine Chance hätte.

Zwei Brüder betreiben in der Ödnis von Montana eine Ranch. Phil (Benedict Cumberbatch) ist ein Rauhbein alter Schule, noch dazu ein Sadist. Mit dem weichherzigen George (Jesse Plemons) kann man auskommen – denkt sich die junge Witwe Rose (Kirsten Dunst) und heiratet George. Dass Rose mit ihrem erwachsenen, ziemlich queer auftretenden Sohn Peter (Kodi Smit-McPhee) ins Farmhaus zieht, missfällt Phil. Mit Frotzeleien und kleinen Gemeinheiten rächt sich Phil an Peter. Doch bald zeigt sich, dass der Macho, in Wahrheit homosexuell, von dem sanften jungen Mann angezogen wird. Benedict Cumberbatch brilliert als gespaltener Charakter, der seine wahren Gefühle hinter kernigem Gehabe und seltsamen Riten – nackt durch den Fluss schwimmen, sich von oben bis unten mit Schlamm einreiben – verbirgt. Und so wird doch noch ein halber Freundschaftsfilm daraus, bei dem Phil Peter das Flechten von Reitpeitschen beibringt.

 Benedict Cumberbatch (l) und Jesse Plemons in einer Szene von "The Power of the Dog"
Foto: Kirsty Griffin/Netflix via AP/dpa

 Benedict Cumberbatch (l) und Jesse Plemons in einer Szene von "The Power of the Dog"

Und noch ein Kino-Veteran überzeugt in Venedig mit einem Wettbewerbsfilm über einen rätselhaften Einzelgänger. Leider war Paul Schraders Vorgängerfilm "First Reformed", mit Ethan Hawke als verschlossenem Reverend, der sich radikalisiert, bei der Mostra 2017 leer ausgegangen. Das sollte sich bei "The Card Counter" nicht wiederholen. Oscar Isaac spielt die Titelrolle eines professionellen Pokerspielers mit dunkler Vergangenheit. Die Casinos, in denen William Tell zockt, sind eine Art Fegefeuer für den Irakkriegs-Veteran, der als Folterer in Abu Ghraib schwere Schuld auf sich geladen hat. Vor der Gesellschaft hat Tell seine Strafe abgebüßt – er saß für die Übererfüllung seiner Pflichten im Gefängnis – aber selbst kann er sich seine Taten nicht verzeihen.

Dann nähert sich der Teenager Cirk (Tye Sheridan) dem Ex-Soldaten und schlägt ihm vor, Major John Gordo (William Dafoe) zu Tode zu foltern, jenen Vorgesetzten also, der Cirks Vater, der sich aus Schuldgefühl das Leben nahm, auf dem Gewissen habe. An Gordo, den oberen Folterknecht in Abu Ghraib, erinnert sich Tell noch allzugut (das Folterlager imaginiert sich Schrader in verzerrten, Goya-haften Alptraumsequenzen). Für eine Weile bilden Tell, Cirk und die professionelle Spielerin La Linda (Tiffany Haddish) eine Surrogatfamilie. Derweil steht die Frage im Raum, ob es Tell gelingt, dem jungen Mann die Rachepläne auszureden.

Oscar Isaac in einer Szene aus "The CardCounter"
Foto: Uncredited/Focus Features via AP/dpa

Oscar Isaac in einer Szene aus "The CardCounter"

Ob sie den richtigen Weg eingeschlagen hat, muss sich auch Diana Spencer fragen, als Princess Diana beim Volk hochbeliebt, aber in ihrer Rolle an der Seite eines Prinzen, der sie kaum eines Blicks würdigt, todunglücklich. "Spencer" spielt während der Weihnachtsfeiertage in Sandringham House, dem Landsitz der Queen. Pablo Larraín hat ein atmosphärisch dichtes Dokudrama inszeniert. Im Mittelpunkt: Kristen Stewart, deren Gesichtszüge Diana überhaupt nicht gleichen, die uns aber mit ihrer Körpersprache, all den Manierismen der scheuen Prinzessin, überrumpelt. Wenn Diana mitten bei Christmas Dinner ihre Perlenkette zerreißt – und die in die Suppe gefallenen Perlen verschlingt, wenn sie Zwiesprache mit den Bediensteten und der durch Sandringham geisternden Ahnin Anne Boleyn hält, die wie Diana eisig Abstand zur königlichen Familie hält – kristallisiert sich das Reenactment einer historischen Zusammenkunft zu großem Kino.

Am schönsten sind Larraín die Szenen der selbstvergessen durchs Schloss tanzenden Diana gelungen. Nur die Beziehung zwischen Diana und ihren Söhnen William und Harry ähnelt der einer echten Familie. Am Ende gelingt es der Prinzessin, die jungen Prinzen mit ihrem Porsche nach London zu entführen – um ein Fastfood-Restaurant zu besuchen. Kann doch noch alles gut werden?

Kristen Stewart als Prinzessin Diana am Set zu "Spencer"
Foto: Spencer/dpa

Kristen Stewart als Prinzessin Diana am Set zu "Spencer"

Ein normales Familienleben: Nichts wünscht sich Julie (Laure Calamy) mehr als das. Aber in "Full Time", Éric Gravels Drama um eine zweifache alleinerziehende Mutter, die fast unter die Räder eines kaum zu bewältigenden Arbeitslebens gerät, wird der alleinstehenden Frauenfigur nichts geschenkt. Mit ihren Kindern lebt Julie auf dem Land, während sie in einem Pariser Luxushotel jobbt. Während sie hofft, eine bessere Anstellung zu bekommen, bricht ein Nationalstreik aus und legt den gesamten Verkehr lahm. Gravel zeigt den Alltag dieser Frau als Ausnahmezustand unter stetig anwachsendem Stresspegel.

Warum läuft "Full Time" in der Reihe "Orrizonti" und nicht im Wettbewerb? Weil es sich weder beim Regisseur noch bei der Hauptdarstellerin um Stars handelt? Weil sich der Film einem Randthema widmet? Man habe zu viele geeignete Bewerber für die Hauptschiene gehabt, hat sich Festivalchef Alberto Barbera verteidigt. Man versteht das, nicht jeder Film kann in der Königsdisziplin antreten. Trotzdem ist "Full Time" ein Meisterwerk, großartig montiert, packend rhythmisiert. Julie kämpft gegen die Zeit. Die eine (Diana) verfügt im Übermaß über sie, die andere hat zuwenig Zeit. Kino bedeutet, den exemplarisch leidenden Figuren zuzuschauen. In der Gewissheit, dass wir es dann doch ein bisschen besser getroffen haben.

Laure Calamy in einer Szene des Films "Full Time"
Foto: Filmfest Venedig

Laure Calamy in einer Szene des Films "Full Time"