Wolfgang-Hahn-Preis 2019

Jägerin und Sammlerin

Die Künstlerin Jac Leirner
Foto: Frank Schoepgens, Courtesy of Jac Leirner und Gesellschaft für Moderne Kunst e. V Wolfgang-Hahn-Preis 2019

Die Künstlerin Jac Leirner

Die brasilianische Künstlerin Jac Leirner hebt Alltagsfunde aufs Podest. In Köln bekommt sie nun den Wolfgang-Hahn-Preis des Museums Ludwig

Ausgerechnet in Zeiten, in denen Kunst­stofftaschen als Sinnbilder einer umweltzerstörerischen Überflussgesellschaft langsam aber sicher aus den Geschäften verschwinden, kauft das Museum Ludwig ein Kunstwerk aus Plastiktüten. Akkurat nebeneinander aufgereiht und nach Farben sortiert, sehen Jac Leirners "Museum Bags" (1985/2018) mit ihrem unaufgeregt präzisen Museumsshop-Design zwar selbst fast aus wie kleine Kunstwerke, dennoch schwingt eine gehörige Portion institu­tioneller Selbstkritik in diesem Ankauf mit. 

Anlass für die Neuerwerbung ist der Wolfgang-Hahn-Preis. Mit dieser Auszeichnung ehrt das Museum anlässlich der Art Cologne jedes Jahr einen Künstler oder eine Künstlerin, die zwar bereits internationale Bekanntheit erlangt haben, dessen Werk in Deutschland aber noch nicht so vertreten ist, wie sie es verdient hätten. Der mit maximal 100.000 Euro dotierte Preis beinhaltet neben dem Ankauf eines Werks für die Museumssammlung eine Ausstellung und eine begleitende Publikation.

In diesem Jahr wird die Auszeichnung zum 25. Mal vergeben und geht erstmals nach Lateinamerika. Die Brasilianerin Jac Leirner fertigt minimalistische Skulpturen aus alltäglichen Objekten: Briefumschlägen, Flugtickets, Visitenkarten, Zigarettenpackungen oder eben Plastiktüten. Sie bezeichnet diese Gegenstände als "Materialien, die jedem gehören“. Es sind universelle Dinge, die jeder schon einmal in der Hand hatte und die in einem ständigen Kreislauf der minderwertigen Objekte durch die Gesellschaft zirkulieren. "Materialien" nennt Leirner diese Objekte bewusst deshalb, weil sie diese eben ausschließlich aufgrund ihrer Beschaffenheit und nicht etwa aus nostalgischen Gründen über Jahrzehnte hinweg anhäuft. 

Obsession seit 1985


Dass viele ihrer Materialien mittlerweile obsolet und damit auf dem besten Weg zu Sammlerstücken sind, findet die Künstlerin amüsant. Neben den in der Europäischen Union ab 2021 offiziell verbotenen Einwegplastiktüten gibt es da etwa die aus Flugzeugen entwendeten Aschenbecher, die sie für ihre 1992 bei der Documenta gezeigte Installation "Corpus Delicti" mit einer Metallkette verband und von Flugtickets umrahmt auf einem Podest aus Luftpolsterfolie und Glasscheiben bettete. 
Leirner begann das obsessive Sammeln im Jahr 1985, und noch immer hat sie nicht alle Materialien von damals verarbeitet. Gerade überlegt sie, was sich mit einer Sammlung an Briefumschlägen aus Museumsshops anstellen ließe, die durch den Erwerb von Postkarten über die Dekaden hinweg entstand.

Ursprünglich interessierte sich die Künstlerin vor allem für den universellen Charakter dieser Objekte, doch längst ist klar, dass sie auch einen persönlichen Charakter haben. Bereiste Orte, geknüpfte Kontakte, durchfeierte Nächte: Das Material bildet die Summe eines individuellen Lebens. Am deutlichsten wurde das in Leirners Einzel­ausstellung "Junkie", die 2016 bei White Cube in London zu sehen war. Leirner spannte mit Joint-Stummeln bestückte Stahlseile durch die Galerie und zeigte Fotografien von winzigen Skulpturen, die sie aus Kokainstücken geformt hatte. "Ich bin eine furchtbare Foto­­grafin", erklärt Leirner lachend. "Aber die Bilder sind aus einem Moment der Dringlichkeit heraus entstanden."

Die Zeit verändert die Kunst

Sucht, Massenkultur und Exzess sind Themen, die in Leirners Arbeiten immer wieder auftauchen – aber primär geht es ihr darum, Formen zu schaffen. Das wird deutlich, wenn man sieht, wie sie für "Todos os cem" (1998) brasilianische Banknoten der durch die Inflation entwerteten Währung Cruzeiro mit der Präzision eines Donald Judd und der Form- und Farb­verliebtheit einer Agnes Martin zu einer Schlangenlinie aneinanderreiht. Oder wie sie für "Skin" (2013) Hunderte hellblaue Zigarettenpapiere mit ihren Ableck-Klebestreifen so an der Wand befestigt, dass diese zwar im perfekten Winkel und im exakt gleichen Abstand zueinander hängen, sich aber gleichzeitig mit spielerischer Leichtigkeit bei jedem Luftzug mitbewegen. Dass diese Materialien nebenher ihre eigenen Geschichten erzählen, deren Intonation sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert, lässt Leirner voller Gelassenheit geschehen