KW Institute for Contemporary Art, Berlin

Versetzungsgefährdet

Irgendetwas stimmt hier nicht, hier am Eingang. Irgendwie schräg das Ganze, würde man vielleicht denken, sich nicht weiter wundern und hineingehen. Prompt würde man die Hälfte der Intervention übersehen, wüsste man nicht, dass Renata Lucas derzeit in den Räumen der Kunst-Werke (KW) ausstellt. Die Arbeiten der brasilianischen Künstlerin sind, zumindest in ihrer Präsentation, subtil und minimal. Mit ihren architektonischen Eingriffen schafft es Lucas, dass Besucher, Bewohner und vorbeigehende Passanten ihre vertraute Umgebung aufs Neue erfahren – oder eben daran vorbeigehen.

Auf der vergangenen Venedig-Biennale asphaltierte Lucas einen Teil der Kieswege in den Giardini. Auch hier nahmen Besucher den doch sehr deutlichen Eingriff nicht immer sofort wahr. Zuerst mögen Lucas‘ Werke unbemerkt bleiben, im zweiten Moment jedoch wird es unverständlich, wie man die Veränderung übersehen konnte, bringt sie doch die gesamte Wahrnehmung zum Torkeln. Indem Lucas einzelne Schichten eines Ortes ab- und umbaut, stellt sie den Hintergrund nach vorne und entlarvt wirklichkeitsformende Strukturen.

Projekte können jederzeit scheitern
Von einer fünfköpfigen Jury ausgewählt, erhielt Renata Lucas nun den mit 10.000 Euro dotierten Kunstpreis der Schering Stiftung. Die Organisatoren haben 15 internationale Kuratoren gebeten, einen Künstler vorzuschlagen, der ihnen in den letzten zwei Jahren besonders aufgefallen ist. Lucas war die Neuentdeckung von Jens Hoffmann, Direktor des CCA Wattis Institute for Contemporary Art in San Franciso. Der Preis, 2005 und 2007 unter dem Namen Förderpreis Bildende Kunst in Kooperation mit der Berlinischen Galerie vergeben, schließt neben dem Preisgeld einen monografischen Katalog und eine Einzelausstellung des Preisträgers in den KW ein.

Mehr als ein Jahr hat es gedauert, die zweiteilige Arbeit mit dem Namen „Kunst-Werke, 2010“ und dem portugiesischen Zusatz „Cabeça e cauda de calvalo“ (Kopf und Schweif des Pferdes) in den KW zu verwirklichen, denn den als etwas schräg wahrgenommenen Eingang hat Lucas tatsächlich verschoben. In einem Halbkreis um die Toreinfahrt auf der Auguststraße zum Hof der KW verrückte sie den Gehweg um 7,5 Grad gegen den Uhrzeigersinn. Das verlangt im Vorfeld umfangreiche Verhandlungen und Gespräche mit Nachbarn, Statikern, dem Stadtbauamt, der Denkmalpflege.

Ihre Projekte können jederzeit scheitern, stellt sich einer der Verhandlungspartner quer. Und tatsächlich konnte Lucas ihrem ersten Impuls für die KW nicht folgen: Hinter Dan Grahams „Café Bravo“ im Innenhof der KW grenzt ein Wohnhaus und eine Synagoge, an der Spiegelwand des Cafés treffen sie aufeinander. Lucas wollte genau dort einen drehbaren Zugang schaffen, um die drei sehr unterschiedlichen Welten zu vermischen. Die Nachbarn willigten nicht ein. 

Mehr als lästige Nebensache

Was für andere lästige Nebensache ist, ist für Lucas das eigentlich Faszinierende ihrer Arbeit: Welche Überlegungen stehen für die einzelnen Institutionen im Vordergrund, wer kann wen überstimmen und warum? Angetrieben wird Lucas dabei durch die Frage, warum Dinge so konstruiert sind, wie sie es sind, und wie man diese Dinge ändern könnte. „Du musst nicht immer den Straßenlinien folgen“, fordert Lucas auf. „Definiere deinen eigenen Pfad, deinen eigenen Zeichenwald.“ Durch die Versetzung der Pflastersteine offenbart Lucas sowohl die alten als auch die neuen Strukturen und somit Wandel und Vergänglichkeit der Stadt.

Um 7,5 Grad verschoben zieht sich ausgehend vom Halbkreis am Eingang eine imaginäre Diagonale über das gesamte Grundstück bis zum entgegengesetzten Ende im Erdgeschoss der Kunsthalle, wo der erste Halbkreis auf einen zweiten trifft.

Auch im Inneren sieht man im ersten Augenblick nichts und steuert auf die gegenüberliegende Wand zu, weil dort doch etwas zu sein scheint: der zweite, in den Boden eingekerbte Halbkreis. Davor liegt ein Zettel mit der Aufschrift „Benutzung der Drehscheibe auf eigene Gefahr“. Drehscheibe? Etwas schüchtern betritt man den Halbkreis, stemmt sich mit den Händen gegen die Wand und fängt an zu schieben und zu marschieren, bis sich der Boden mit einem lauten Poltergeräusch zu bewegen beginnt. Der Halbkreis, eigentlich ein Kreis, liegt zur Hälfte innen, zur Hälfte draußen. Eine der Hälften ist mit Gras bewachsen. Einmal in Gang gesetzt, bewegt sich die Drehscheibe schneller und schneller. Bis einem schwindelig wird, wechselt der Boden immer wieder zwischen Weich und Hart, Grün und Grau. Wortwörtlich überschreitet man die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Kunstraum und dem unsichtbaren Brachland dahinter. Wieder gerät man ins Torkeln. Renata Lucas holt Außen nach innen. Oder war es umgekehrt?

KW Institute for Contemporary Art, Berlin, bis 7. November