Mode als Überwachungsschutz

Ich trage was, was du nicht siehst

Tarnkleidung kommt eigentlich aus dem Militär, kann aber auch im Kampf gegen omnipräsente Überwachungskameras helfen. Eine gute Idee, findet unser Kolumnist, beim Design der "Adversarial Fashion" gibt es aber noch Luft nach oben

Sich mit Hilfe von Klamotten zu tarnen hat Tradition. Ganz früher versteckten sich Menschen unter Bisonfellen, um sich unentdeckt einer Herde zu nähern. Tarnkleidung, wie wir sie heute kennen, entstand wahrscheinlich bei den Militärs des 18. Jahrhunderts. Gewehrschützen beispielsweise trugen Grün, um im Dickicht besser aus dem Hinterhalt schießen zu können. Ein Erfolgsmodell, das peu à peu auf andere Einheiten übertragen wurde. Seit dem Ersten Weltkrieg wird der Begriff Camouflage benutzt. Von da an wurden auch Flugzeuge, Jeeps und Panzer getarnt.

Heute haben sich Tarnmuster nicht nur im Militär, sondern auch in der Mode und weniger kriegerischen Schauplätzen wie Clubs und Innenstädten etabliert. Exklusive Labels wie Gucci, Chanel und Yohji Yamamoto haben Camouflage im Angebot, dabei wären solche Teile wohl selbst für ein Wasserpistolen-Duell zu schade.

Praktischen Nutzen haben Camouflage-Muster im Alltag nur bedingt. Dabei gehen Stadtmenschen und Funktionskleidung seit vielen Jahren leidenschaftlich eine immer unzertrennlichere Symbiose voller Hybris ein. Kaum geht es bei acht Grad für zwei Stunden auf den windigen Flohmarkt, belagern gepuffte Patagonia-Schichten wie Zwiebelschalen den Oberkörper, und die Gore-Tex-Schuhe dürfen dabei natürlich auch nicht fehlen. Es könnte ja regnen.

Mehr Überwachungskameras als Einwohner 

Die weitaus akutere Alltagsbedrohung als eine mögliche Husche dürfte unterdessen die ständige Überwachung durch Kameras sein. Zwar gilt Europa als international letzte Bastion, die so etwas wie Datenschutz und Privatsphäre überhaupt noch buchstabieren kann. Aber auch hierzulande werden Videoüberwachung und Gesichtserkennung immer häufiger eingesetzt. Zum Beispiel in mobilen Polizeiwachen wie im Görlitzer Park, um vermeintlich den Drogenhandel zu observieren, beziehungsweise passiv-aggressiv zu verlagern.

In chinesischen Städten gibt es mittlerweile kaum noch Flecken, in denen Menschen nicht per Gesichtserkennung gescannt werden. In dem Land soll es mehr Überwachungskameras als Einwohner geben. Um in den Genuss von Massenüberwachung zu kommen, reicht aber auch schon ein Wochenendtrip nach London. Hier sollen rund 700.000 Überwachungskameras installiert sein. Im Schnitt wird pro Tag jeder Londoner und jede Londonerin 300 mal gefilmt und von "Big Brother" festgehalten.

Will man sich statt vor Projektilen also vor Gesichtserkennung und Kameras schützen, spricht man nicht von Camouflage, sondern von "Adversarial Clothing/Fashion". Seit Jahren arbeiten Künstlerinnen und Designer an Konzepten und Ideen, um in der Öffentlichkeit ein letztes bisschen Privatsphäre zurückzugewinnen. Zwar ist das den meisten relativ egal. Da aber in Zeiten des Krieges in der Ukraine selbst in der oberflächlichen Fashion-Szene Kritik laut wird, ob Camouflage als Fashion-Pattern überhaupt noch angebracht ist und nicht sogar taktlos wirkt, könnten Labels sich intensiver dem Thema Adversarial Clothing widmen. Denn ästhetisch und designtechnisch gibt es da noch Luft nach oben. 

Hightech trifft trippiges Missoni-Flair

Auf der Webseite Adversarial Fashion können Pullis und T-Shirts erstanden werden, die mit Autokennzeichen bedruckt sind. Damit sollen Kameras irritiert und getäuscht werden, da sie statt Menschen dann nämlich ein Auto erkennen. An der Universität Maryland wurde ebenfalls ein Muster für T-Shirt und Pullover entwickelt, das Kameras in Verlegenheit bringen soll, und von Überwachungssystemen nicht getrackt werden kann. Richtig elegant sieht beides nicht aus. Ambitionierter ist hingegen das italienische Label Capable. Die sogenannte Manifesto Collection ist ebenfalls mit algorithmischen Mustern übersät und verbindet High-Tech mit trippigem Missoni-Flair. Das hat seinen Preis. Der gestrickte Hoodie kostet laut Liste 560 Euro.

Das Tricksen mit Kleidungsstücken hat in Italien quasi Tradition. Als im April 1988 dort die Gurtpflicht für Autos eingeführt wurde, gestaltete der Psychiater Carlo Ciaravolo ein T-Shirt mit einem schwarzen diagonalen Balken, der einen angelegten Gurt imitieren soll. Eigentlich war das T-Shirt als Sozialexperiment gedacht. Aber Medien und Auto-Fans stürzten sich begeistert auf das Thema. Lieber die Polizei foppen als lebendig nach Hause kommen.

Elektronischer ist das DIY-Projekt Camera-Shy Hoodie von Mac Pierce. Hier kommen statt schriller Muster Infrarot-LEDs zum Einsatz. Für das menschliche Auge unsichtbar blitzen die LEDs wie ein Stroboskop und blenden so Videokameras, die sich im Nachtsichtmodus befinden. Im Tageslicht ist diese Konstruktion also untauglich, das Konzept aber überzeugt. Vor allem lässt es sich mit ein wenig Geschick selber nachbasteln.


Adversarial Clothing hat natürlich seine Schwächen. Die teils abstrakten Muster können nicht zu 100 Prozent garantieren, unerkannt zu bleiben. Aber letztlich ist es ähnlich wie mit Fahrradschlössern. Irgendwie kann jedes Schloss aufgeknackt werden. Auf die Idee, das geliebte Rad deshalb erst gar nicht abzuschließen, kämen dennoch die wenigsten. Wieso sollten solche Sicherheitsstandards nicht auch für Kleidung gelten? Das mit der wetterfesten Funktionskleidung im Mainstream hat ja auch bestens geklappt. Wenn es dann doch mal regnet, freut man sich.