Agnès-Varda-Ausstellung in Berlin

Über eine zeitlose Feministin

Agnès Vardas Werk könnte auch nach ihrem Tod nicht gegenwärtiger sein. In Berlin ist die erste umfassende Ausstellung der Fotografin, Regisseurin und Künstlerin in Deutschland zu sehen

"Es ist ein Spiel mit der Realität", erzählt Agnès Varda, "das Spiel nennt sich Kino". Das Experiment mit Dokumentation und Fiktion und die Zusammenführung der beiden eigentlich entgegengesetzten Bereiche ist nicht nur eines der zentralen thematischen und formalen Mittel von Vardas Kurzfilm "Les 3 Boutons". Es zieht sich durch das gesamte Oeuvre der Regisseurin, Fotografin und Künstlerin.

"Les 3 Boutons" folgt einem 14-jährigen Mädchen, das sich mithilfe eines überdimensionalen, magentafarbenen Kleides in ein modernes, feministisches Anti-Märchen begibt. "Ich werde für mein Recht auf Bildung kämpfen. Ich will mein Leben selbst wählen", sagt sie. Und: "Ein Junge meinte zu mir: 'Du bist kompliziert'. Ja, na und?". Höchstpolitische Aussagen, mit Zahnspange und unbefangenem Lächeln getroffen. Der aus dem Jahr 2015 stammende Film, den Varda für das Modehaus Miu Miu drehte, ist nur ein Beispiel ihrer zahlreichen sozialkritischen, politischen und feministischen Arbeiten, die sich über eine Schaffensperiode von mehr als sechs Jahrzehnten ziehen.

Im Kulturzentrum Silent Green in Berlin wird nun die erste umfassende Retrospektive der Filmemacherin in Deutschland gezeigt. "Das dritte Leben der Agnès Varda", kuratiert von Dominique Bluher und Julia Fabry, zeigt mehr als 20 teils den gesamten Raum einnehmende Werke und Werkreihen – mit besonderem Fokus auf ihre Arbeit als bildende Künstlerin.

Vardas drei Leben

Im März 2019 verstarb die damals 90-Jährige Varda an Krebs. Und dennoch ist das Werk der Pionierin der Nouvelle-Vague-Bewegung, eine in den 1950er-Jahren von Männern dominierte Stilrichtung des französischen Films, bedeutend und aktuell wie nie. Als eine der wenigen Regisseurinnen gewann sie unter anderem den Goldenen Löwen und einen Ehrenoscar.

Vardas drei Leben, die der Ausstellungstitel andeutet - als Fotografin, Filmemacherin und bildende Künstlerin - sind aber, um präzise zu sein, nicht voneinander unabhängige Phänomene. Sie gehen fließend ineinander über, ähnlich wie ihre Themen.

Vardas Protagonistinnen, sowohl in ihren Filmen als auch in der Fotografie und in der Kunst, sind häufig starke, eigenwillige Frauen und marginalisierte oder verstoßene Gesellschaftsmitglieder. So etwa in der in der Videoinstallation "Die Witwen von Noirmoutier" (2005), die in der Ausstellung zu sehen ist. Sie zeigt Porträt-Videoaufnahmen von 14 Witwen, die von ihrem individuellen und dennoch kollektiven Umgang mit Trauer berichten.

Über den Tod nachdenken im Krematorium

Die Videokacheln, darunter auch Varda selbst, die1990 ihren Ehemann Jaques Demy verlor, sind um eine großformatige Aufnahme des Atlantiks angeordnet. Varda beschäftigt sich damit mit einer gesellschaftlichen Gruppe, die oftmals kein Gehör bekommt, ohne sie mit Pathos oder Opferposen aufzuladen. Stattdessen ist das Video eine empathische Auseinandersetzung mit dem Tod. Besonders passend ist dabei auch der Ausstellungsort, da es sich beim Silent Green um ein ehemaliges Krematorium handelt.

Ein immer wiederkehrendes Motiv in Vardas Oeuvre sind ruhige, idyllische Aufnahmen des Ozeans, zum Beispiel in der Videoarbeit "Meeresküste" (2009), bestehend aus einer projizierten Digitalfotografie, einem Ein-Kanal-Video und davor ausgestreutem Strandsand. Doch es gibt auch wenig beschauliche Gewaltszenen. "Angehaltene Momente" (2012-2016) ist eine Fotoserie, die Stills aus Vardas Film "Vagabond" (1986) zeigt. Der Film dreht sich um die Landstreicherin Mona, deren toter Körper in einem Graben gefunden wird.

Die Bilder zeigen, wie Mona von so genannten "Strohmenschen" angegriffen wird, die Teil eines Brauches im Dorf Cournonterral bei Montpellier sind. Für ein paar Stunden greifen sie Passantinnen und Passanten mit in rotem Weintrub getränkten Lappen an.

Alternative Fakten von Trump und Co

Weiß man über diesen, ziemlich speziellen Brauch nicht Bescheid, scheint es, als zeigten die Fotos blutige Mordszenen. Hier lässt Varda vollkommen nahtlos Realität mit Fiktion verschwimmen. Man fantasiert über eine vor Brutalität kaum zu ertragene Geschichte, da auf den Fotos lediglich verschwommene Fratzen, eine schreiende Mona und rot eingefärbte Körper sichtbar sind. Die Künstlerin verdeutlicht damit, wie ein Mangel an Information in alternative Realitäten übergeht.

Vermutlich hat Varda damals nicht an alternative Fakten von Trump und Co gedacht, jedoch ist diese Verbindung ein Zeugnis der Zeitlosigkeit ihrer Arbeiten. So haben nicht nur ihre Themen Bestand, sondern auch ihr Wirken als Ausnahme-Künstlerin. Sie ist Vorreiterin in einer männlich besetzen Filmindustrie und damals wie heute Vorbild für viele Frauen im Film - aber auch in der Kunst und Fotografie.