Ai Weiwei

 

Kindheit in einer chinesischen Provinz während der Horrorjahre der Kulturrevolution. Ein Vater, ehemals berühmtester Poet des Landes, der als Volksfeind öffentliche Toiletten putzen muss. Bei der erstbesten Gelegenheit, die sich dem Jugendlichen bietet, die Flucht nach Amerika, wo er als illegaler Immigrant von Gelegenheitsjobs lebt und nebenbei Kunst macht. Nach zwölf Jahren, weil sein Vater im Sterben liegt, die Rückkehr nach China und schließlich der Aufstieg zum größten Künstler der Nation. Entwurf ihres bekanntesten Wahrzeichens, des Olympia­stadions in Peking. Oppositionelle Integrität und stetige Regimekritik.
Die Rede ist von Ai Weiwei, Jahrgang 1957, und es ist die Geschichte, die er selbst in einer Reihe von Interviews erzählt. Sie ist so bestechend, dass auch die gerade erschienene, ihm gewidmete Monografie in der Reihe „Contemporary Artists“ aus dem Phaidon Verlag immer wieder darauf zurückkommt. Sowohl im einleitenden Künstlergespräch mit Hans-Ulrich Obrist als auch in Ai Weiweis eigenem Beitrag und im soliden Überblicksessay von Karen Smith, der chronologisch das Werk des Künstlers ausleuchtet und es dabei immer wieder in Beziehung zu seiner Biografie und ihren politischen Umständen setzt.
Was hinter der Beschäftigung mit Ai Weiweis Leben – und mit seiner Architektur, die wahrlich den am wenigsten interessanten Bestandteil seines Schaffens bildet – oft zurückbleibt, ist seine Kunst. Glücklicherweise liefert der üppig bebilderte und mit großer Sorgfalt editierte Band gerade zu diesem Punkt einige Überraschungen. Zum Beispiel Abbildungen seiner frühen Arbeiten, die noch in New York entstanden sind und so gut wie nie ausgestellt werden.
Eine Reihe von Leinwänden mit dem Konterfei Maos sind dort abgebildet, deren düstere Figürlichkeit sich wie in einem Spiel aus Licht und Schatten in neoexpressionistisch-abstrakte Formen auflöst. Konzept­skulpturen, die mithilfe surrealistischer Zitate zeitgenössisch-politische Inhalte transportieren: ein Champagnerglas, das symbiotisch mit einem Arbeiterschuh verbunden ist; eine Violine, die an der Stelle des Instrumentenhalses den Griff eines Spatens trägt. Nicht nur, dass diese Arbeiten von jener handwerklich makellosen Qualität sind, die auch Ai Weiweis späteres Werk auszeichnet. Westliche und östliche Auffassungen von Kunst und Leben prallen hier aufeinander und bilden wie nach einer Art Urknall neue Formen, eine neue künstlerische Sprache.
Ai Weiwei ist gestärkt aus dem Hype um chinesische Gegenwartskunst hervorgegangen, ihrem quasi über Nacht stattfindenden Aufstieg in die Saatchi-Liga des Westens und ihrem unvermeidlichen Fall. Blättert man durch die Monografie, fällt auf, dass das vor allem an der überragenden inneren Spannung seines Werks liegt. Die zeigt sich in Ais bibelartigen Konzeptkunstbüchern, die buchstäblich den Gründungstext junger chinesischer Kunst bilden. In Fotoserien, in denen er Wahrzeichen wie dem Tiananmen-Platz, dem Eiffelturm, dem Weißen Haus oder dem Reichstag den Stinkefinger zeigt. In Performances, für die er jahrtausendealte chinesische Vasen zerschmettert. Oder in seinen „Template“-Installationen, für die er Holz aus historischen Tempeln, die dem Bauboom in chinesischen Metropolen weichen mussten, zu rigiden Skulpturen verarbeitet.
Ais Arbeiten resultieren aus einem Clash der Kulturen. Sie schöpfen aus einer Wut, die sich ebenso gegen die Politik der Volksrepublik wendet wie gegen die Überlegenheitsfantasien des Westens – und beide mit ihren eigenen Mitteln schlägt.
Dass Ais Skript seines Lebens einem amerikanischen biopic voller Pathos gleicht, wirkt vor diesem Hintergrund auch wie ein geschickter Schachzug. Er versteht sich darauf, das Unvorstellbare seiner Geschichte in uns verständliche Erzählstrukturen zu packen. Es ist die Selbstinszenierung eines Künstlers, die zu seinem Werk gehört: Sie spiegelt ein Land im Wandel wider, die befreiende Funktion des Marktes und die heilbringende Kraft der westlichen Ideologien von Freiheit, Kapital und Kunst.
Ai Weiweis Werk wirkt da ungleich zynischer und mächtiger. Es hat das Potenzial, unsere Idee vom holprigen Aufstieg Chinas zur Weltmacht zu unterlaufen. Und es lässt vermuten, dass dieser kreative Urknall auch noch für die kommenden Jahrzehnte seine Ausläufer ins Weltall der Kunst schicken wird.

 

Karen Smith, Hans-Ulrich Obrist (Hg.): „Ai Weiwei“. Phaidon Verlag, 160 Seiten, 39,95 Euro