Künstlerin A K Dolven in Oslo

Eine echte Naturgewalt

Die am Polarkreis lebende A K Dolven ist Norwegens bekannteste Multimediakünstlerin. In ihrer opulenten Retrospektive im Nationalmuseum in Oslo bewegt sie sich souverän zwischen den Genres und streckt ihre Fühler in die Gegenwart

Beim Treppensteigen zum obersten Stockwerk des Nationalmuseums in Oslo schaut man bereits auf die ersten, fünf Meter hohen Werke. Je näher man kommt, desto deutlicher werden die Konturen der roten Fingerabdrücke, die in Linienbewegungen nach oben steigen. Sie sind inspiriert von einer ähnlichen Spur auf einem späten Selbstporträt der finnisch-schwedischen Malerin Helene Schjerfbeck, die lange trotz eines eigenwillig expressiven Stils unterschätzt wurde und heute in Skandinavien ein Mythos ist. 

Im Ausstellungsraum reihen sich dann an einer Wand weitere abstrakte Großformate aneinander, nicht wenige sind in Berlin auf Glas, Aluminium oder Leinwand entstanden. Dort hat die Künstlerin Anne Katrine "A K" Dolven von 1987 bis 1997 gelebt, bevor sie nach London ging und heute auf den Lofoten im Norden Norwegens Wurzeln geschlagen hat. 

Die beschriebenen Werke stehen mit ihren minimalistischen und zugleich wuchtigen Gesten im Kontrast zu dem lakonischen Filmporträt einer Tulpe, die mit weißer Farbe bemalt wird und geradezu um ihr Leben kämpfen muss, oder zum transparenten Glaskorridor, in dem kleinere Werke versammelt sind. Beim Durchschreiten des durch Audio-Einsprengsel getakteten Durchgangs bekommt man die Rückseiten von Gemälden zu sehen, flankiert von Videobildschirmen, die scheinbar unscharfe Bewegungen zeigen.

Der Übervater Edvard Munch

A K Dolven hat die Kamera experimentierfreudig zu ihren Augen hinbewegt und so den Effekt des Heranzoomens erzeugt. Auf der anderen Seite des Korridors stößt man auf eine Auswahl ihrer Notizbücher, die Einblicke in den Prozess der Ideenfindung gewähren. 

Für ihre Retrospektive wurde der 72-Jährigen der große Lichtsaal zur Verfügung des monumentalen Museums gestellt, eine veritable Herausforderung, die sie mühelos mit Sinn für das Aufbrechen von gewohnten Raumanordnungen meistert. Die abwechslungsreiche Auswahl umfasst rund 80 Gemälde, Skulpturen, Videoinstallationen, Filmprojektionen, Klang- und Textarbeiten aus den letzten vier Jahrzehnten. 

Mal arbeitet sich Dolven am Übervater Edvard Munch ab, indem sie bekannte Motive aus dessen Werk mit Musik und Bewegung neu interpretiert. Mal verwendet sie für mehrere skulpturale Arbeiten arktischen Marmor. Er stammt aus der Nähe des kleinen norwegischen Dorfes Fauske, entlang der nordnorwegischen Fjorde. Fauske-Marmor hat eine weiche Maserung in Rosa und Weiß und erinnert an eine Art nordnorwegischen Barock, den sie mit geometrischen Anordnungen in Kreuzform kombiniert. Während man noch darüber nachsinnt, wie alt die beiläufig im Raum platzierten Blöcke wohl sind, fühlt man sich von dem lauten Vogelgeschrei nebenan angezogen.

Care-Arbeit mit Penis

In der Videoinstallation "Moving mountain" von 2004, die in einer Box mit weißen, schrägen Wänden steckt, sieht man zwei Frauen vor einem umwerfenden Naturschauspiel aus Nebel, Klippen und den wild umherfliegenden Seevögeln sitzen. Hin und wieder tauschen sie misstrauische Blicke aus. Sind es Forscherinnen, Liebende oder schlicht Touristinnen? 

Das Video "Ahead" von 2008 beeindruckt gegenüber schon durch die an die Wand geneigte riesige Projektionsfläche. Eine Frau wird von einem Team im Schnee mühsam einen Berghang hochgezogen. Manche der Retter rutschen runter, die Aktion droht zu scheitern. Eine poetische Lebensmetapher in der Tradition des Sisyphus-Mythos? Oder nur ein Verweis auf die wachsende Bedeutung von Care-Arbeit in einer überalterten Gesellschaft, ähnlich wie der in Großaufnahme nebenan gefilmte Penis, den eine Hand mit einem weißen Tuch zu säubern scheint?                            

Strahlendes Weiß dominiert auch die Gemäldeserie mit dem Titel "Can Women Think" (2003–2004), die nach einer Studie über Philosophinnen benannt ist. Es dauert eine Weile, bis man, ausreichendes Umkreisen vorausgesetzt, auf den weißen Oberflächen geometrische Formen und kreisförmige Figuren erkennt und mit den Schwächen der eigenen Wahrnehmung konfrontiert wird. 

Nicht aufs Glatteis führen lassen

Das Verhältnis zwischen Frauen und Natur interessiert Dolven auch in anderen Werken; etwa wenn sie eine kahle Nackte in Rückenansicht vor erhabener Meereslandschaft in all ihrer Verletzlichkeit fotografiert, allein und ungeschützt den Naturkräften ausgeliefert und doch mit sich selbst und der meditativen Situation im Reinen.        

Oder im 16-mm-Film "Amazon" von 2005, der den Titel für die Ausstellung liefert. Dolven stellt darin eine solche Kämpferin dar, die ihren Pfeil, begleitet von schnellen Schnitten, auf ein unbekanntes Ziel abfeuert. Auch diese Hommage verweigert sich schnellen Deutungen. Man sollte sich nicht aufs Glatteis führen lassen und die Gedankenspiele auf sich wirken lassen. 

Es lohnt sich, weitere Werke, darunter auch hinter Wänden mit winzigen Gucklöchern platzierte Filme, in den Galerien der Museumssammlung, in der Bibliothek, Garderobe oder auf dem Dach des Musuems aufzusuchen. Das fragile Zusammenspiel von sorgsam aufgebauten historischen Bezügen und detailreichen Assoziationen ist auch hier unwiderstehlich.