"Wir haben das Raumschiff Erde geerbt, aber nie eine Bedienungsanleitung bekommen", sagt Luigi Fassi und meint das erstaunlich ernst. Der Satz, den er am Eröffnungstag der Turiner Kunstmesse Artissima zitiert, stammt von Buckminster Fuller (1895–1983), Architekt, Philosoph, Science-Fiction-Prophet – und Titelgeber der diesjährigen Messe. In seinem 1969 erschienenen Buch "Operating Manual for Spaceship Earth" beschreibt Fuller die Menschheit als Crew eines gemeinsamen Planeten, der durchs All steuert, ohne Handbuch, ohne zentrale Kontrolle. Seine Forderung: weniger Spezialisierung, mehr Kooperation, langfristiges Denken, Verantwortung gegenüber den Nächsten, die kommen.
"Fuller war überzeugt, dass wir nur dann überleben, wenn wir wieder lernen, Wissen zu verbinden", sagt Fassi, der die Messe schon zum vierten Mal als Direktor verantwortet. "Und Künstlerinnen und Künstler sind dafür die besten Navigator:innen." Die 35. Ausgabe der Artissima ist genau so gebaut: als Versuch, das Benutzerhandbuch für das Raumschiff Erde neu zu schreiben – und das in Zeiten multipler Krisen.
Dafür versammelt die Messe 176 Galerien aus 36 Ländern; 26 davon sind zum ersten Mal an Bord. Luigi Fassi spricht von einem "Markt mit menschlichem Gesicht" – und meint damit nicht nur die vergleichsweise moderaten Standpreise, sondern vor allem das Umfeld: 56 Kurator:innen sind über Jurys, Ankäufe und Programme in die Messe eingebunden, real existierende Förderung inklusive. Die Mischung ist bewusst gewählt: Neben den üblichen Verdächtigen wie Sies + Höke oder Krinzinger stehen Newcomer aus Zagreb, Taipeh oder Bogotá.
Günstiger geworden ist das Sammeln obendrein: Italien hat die Mehrwertsteuer auf Kunstkäufe gerade von 22 auf 5 Prozent gesenkt – ein politischer Schritt, der nicht nur der Großsammlung, sondern dem Wohnzimmer zugutekommt. "In Italien gehört Sammeln zur bürgerlichen Kultur", sagt Fassi. Das Ergebnis sieht man auf der Messe: Viele Arbeiten liegen preislich unter 30.000 Euro und damit in einem Bereich, der nicht auf Spekulation zielt, sondern auf Nähe. Anders gesagt: Hier hat man keine Angst vor der sogenannten "Mittelklasse", sondern setzt auf sie.
Rebekka Benzenberg "Looking For Stories To Live", 2025
Bei Anton Janizewski verdichtet Rebekka Benzenberg das Bett zum politischen Schauplatz: EMDR-Licht, Candy-Crush-Loops, Skulpturen nach vandalisierten weiblichen Figuren im öffentlichen Raum – eine stille, harte Kritik an der Pathologisierung des Rückzugs. Thomas Dane zeigt Paul Pfeiffers Incarnator-Serie: mit philippinischen Encarnadores gefertigte Gliedmaßen von Justin Bieber – Kopf, Torso, Arm, Beine – als hochglanzreligiöse Reliquien der Gegenwart, in denen Pop-Ikone und Heiliger ineinanderlaufen. Parallel dazu ist Pfeiffers Arbeit "Vitruvian Figure (Juventus)" in der Pinacoteca Agnelli zu sehen: eine immersive Stadion-Soundinstallation gekoppelt an ein 3D-Rendering des Juventus-Stadions mit einer Million Plätzen.
Bei ChertLüdde schreibt Selma Selman mit Schrottmetall – oft Mercedes-Motorhauben – ihre Roma-Biografie in die Kunstgeschichte zurück: lackierte Narben, Text, Selbstinszenierung als Gegen-Kanon. Suprainfinit zeigt Victoria Zidaru (Jahrgang 1956), eine zentrale Figur der rumänischen Gegenwartskunst. Ihre Installation verbindet textile Objekte mit Naturmaterialien wie getrockneten Kräutern. Die Künstlerin arbeitet seit den 1980er-Jahren mit multisensorischen Arrangements, die den Körper als Gedächtnisort sichtbar machen. Ritualität und Ökologie stehen hier gleichberechtigt nebeneinander.
AV17, eine der vielen osteuropäischen Galerien dieser Messe, zeigt Mindaugas Navakas (*1952), dessen monumentale Porzellanskulpturen an westliche Design- und Konsumformen erinnern, aber im Materialbruch poetisch kippen: Der Gegenstand bleibt fragil, trotz Größe und Glanz. An den Wänden hängen emaillierte Urinale. Auf Sockeln lesen sich lange kyrillische und chinesische Worte – Schimpfwörter, Beleidigungen, übertragen in Keramik. Als würden geopolitische Spannungen in einem einzigen Objekt verhandelt. Dass Navakas 1999 als erster Künstler Litauens auf der Biennale in Venedig ausstellte, lässt seinen Auftritt in diesem Messekontext wie eine Fortsetzung eines älteren, osteuropäischen Gesprächs erscheinen.
Rückkopplung, Zeichnung, Zukunft
Wieder einmal sind es die drei kuratierten Sektionen, die das Profil der Turiner Kunstmesse schärfen. "Back to the Future", verantwortet von Heike Munder und Jacopo Crivelli Visconti, bringt verlorene Stimmen der Kunstgeschichte zurück auf die Bühne – diesmal von den 1940ern bis in die 90er-Jahre. John Giorno (Brambilla/Presenhuber) taucht auf, aber es sind Namen wie Erik Schmidt (Krinzinger), die den Ton setzen: Seine Arbeiten aus den 90ern – Zeitschriftenübermalungen, Schlaufen von Clubkultur, sein Film "I Love My Hair" (1997) – lesen sich heute wie Vorblätter zum Influencer-Zeitalter. Wer mehr sehen will: Schmidts große Werkschau im Berliner KINDL läuft noch bis Februar 2026.
Erik Schmidt "I Love My Hair", 1997, Filmstill
Wenige Meter weiter konzentriert sich die Zeichnungssektion "Disegni" (betreut von Irina Zucca Alessandrelli) auf das Unmittelbare. Dan Walsh (Tschudi) strukturiert seine Papierarbeiten in klaren Grids, deren Logik im Detail zu flirren beginnt. Bei Chloe Piene (Szydlowski, Warschau) sieht die Welt düsterer aus: Fragile Kohlekörper, aufgelöst im Weiß, fast schon verglühend.
Ganz im Jetzt verortet sich die Sektion "Present Future", die von Léon Kruijswijk (Mudam) und Joel Valabrega kuratiert wurde. Esther Schipper zeigt den aus Guadeloupe stammenden Maler Thomias Radin, Max Goelitz die Koreanerin Ju Young Kim. Die 1991 geborene Künstlerin verwandelt den Stand in eine Flughafen-Interzone: Glasobjekte wie Fenster, eine Wartebank, dazwischen Durchsagen als Soundperformance. Zusammen mit den wiederkehrenden Textansagen entsteht ein Raum, der nicht zum Verweilen einlädt, sondern das Gefühl der pausenlosen Mobilität sichtbar macht: immer unterwegs, selten wirklich da.
Wenn die Realität aus unerwarteten Winkeln zustößt
Bei der Londoner Galerie Rose Easton zeigt der Künstler Louis Morlæ seine Arbeit "SFB2". Der Stand wirkt auf den ersten Blick wie aus der Funktion gefallen: Die Rückwand wurde um 90 Grad gekippt, als wäre man tatsächlich in einer anderen Schwerkraftzone unterwegs; davor hängen mehrere überdimensionale Airbags aus silikonbeschichtetem Nylon, die sich in regelmäßigen Bewegungen aufblasen und wieder entleeren.
Der Titel "Sidefall Bag" ist wörtlich zu nehmen: ein "Seitwärts-Airbag" für Situationen, in denen keine Frontalzusammenstöße drohen, sondern abrupte Lagenwechsel. Morlæ, der ursprünglich aus dem Produktdesign kommt, baut seine Objekte wie funktionale Prototypen; die Bewegungen kommen über Ventile, die in regelmäßigen Abständen Luft nach außen pressen. Gerade durch dieses ständige Aufatmen und Absinken erhält die Skulptur eine seltsam körperliche Note.
Für die Präsentation wurde der 1992 geborene Künstler mit dem Present Future Award 2025 des italienischen Kaffeeunternehmens Illy ausgezeichnet. Der Preis ist mit einer Einzelausstellung in der Fondazione Sandretto Re Rebaudengo im Herbst 2026 verbunden. Und auch wenn das sicher nicht die multiplen Krisen unserer Gegenwart löst: Eine überdimensionale "Sidefall Bag" schadet bestimmt nicht, wenn die Realität mal wieder aus unerwarteten Winkeln zustößt.