Ein neuer Realismus zeigt sich hier. Die künstlerische Anverwandlung von Lebensrealitäten kann formal und verspielt daherkommen – und umso eindrücklicher die Brutalität einer Diktatur durchschimmern lassen. Die in Nazanin Hafez' präzise komponierten Fotocollagen urbaner Versatzstücke immer wieder auftauchenden Baukräne, Baggerschaufeln, Haken und Schnüre verweisen auf öffentlich stattfindende und medial begleitete Hinrichtungen in Iran, dem Geburtsland der in Mainz ausgebildeten Künstlerin. Hafez demonstriert, dass auch romantisch anmutende Aufnahmen junger Menschen in majestätischen Berglandschaften politische Realitäten spiegeln und die Keimzelle ihrer Überwindung bilden können. Nazanin Hafez' Aufnahmen junger iranischer Frauen, die an Wochenenden die Abgeschiedenheit der Berge suchen, um dort ein freieres und selbstbestimmteres Leben zu erproben, sind ebenso wie ihre Fotocollagen im Frankfurter Kunstverein zu sehen.
Die nunmehr fünfte Ausgabe der 2017 begonnenen Ausstellungsreihe "And This is Us" versammelt zwölf Neuproduktionen von Studierenden und Absolventen der Frankfurter Städelschule, der Kunsthochschule Mainz und der Hochschule für Gestaltung (HfG) Offenbach. Die Kunsthochschulen der Rhein-Main-Region sind, so Kunstvereinsdirektorin Franziska Nori, ein "großer Schatz" und ein "Fitnessstudio für zukünftige Künstlerinnen und Künstler".
Wie sehr das Gym das Bild queerer Männlichkeiten formt, zeigt Sargon Khnu mit seinen Lindenholzreliefs unbekleideter, durchtrainierter Männer, die sich in unterschiedlicher Weise um ihren Körper zu kümmern scheinen. Es gehe um Unterwerfung und homoerotische Spannung, erläutert der 1991 geborene HfG-Student, und um die Vorbereitung des Körpers für den sexuellen Akt. Er wolle die Dynamiken des Gebens und Nehmens betonen, sagt Khnu, dessen Arbeiten die Bildlogiken schwuler Dating-Apps reflektieren. Wo der männliche Körper unter den Prämissen "Top" oder "Bottom" der (anal-)sexuellen Verfügbarkeitsanzeige dient, ließe sich, an eine einschlägige App angelehnt, von Grindr-Realismus sprechen. Daher erscheint es konsequent, dass Khnu mit Reliefs und Skulpturen arbeitet, deren voluminöse Hintern, definierte Bizeps, Trizeps und allerlei andere Muskelpartien die Leitwährung auf dem hochdrehenden queeren Attraktivitätsmarkt räumlich abbilden.
Türen, Gänge und Räumchen
Irgendwo zwischen dem Schauer von Gregor Schneiders begehbaren Räumen und der kühlen Sachlichkeit von Thomas Demands Modellfotografien changiert Simon Gilmers ganz ohne figurative Sensationen auskommende Guckkasteninstallation. Der Titel "Im 2. OG rechts hinter der Wand" beschreibt ziemlich genau die Position der beiden verkleinerten und abstrahierten Raummodelle im Steinernen Haus. Durch zwei Wandöffnungen erblickt man einen ockergrauen Ausstellungsraum mit Tageslichtdecken und angedeuteten Objekten und einen Lagerraum mit allerlei Ausstellungsarchitekturgerümpel.
Wer das seit 1962 als Ausstellungshaus genutzte Steinerne Haus am Römerberg kennt, das einst einer rechtskonservativen Fraktion des 1848er-Paulskirchenparlaments als Tagungslokal diente, weiß um dessen unzähligen, in sämtlichen Stockwerken verborgenen Türen, Gänge und Räumchen. Simon Gilmers Realismus ergänzt die Bühne des White Cube um die viel zu gut gehüteten, funktionalen Geheimräume unserer Kunsthäuser.
Gewinnerin des Young Generation Art Award
An das Glockenspiel auf dem nahe gelegenen Römerberg, dem von einer schmucken, rekonstruierten Fachwerkhäuserzeile eingerahmten Frankfurter Rathausplatz, erinnern zunächst die dezenten Klänge, die Thủy Tiên Nguyễns Möbelskulpturen entsteigen. Manchmal harmonisch-smooth, bisweilen aber auch mehrstimmig-chaotisch wirken die mechanisch erzeugten Töne, die die 1993 geborene Absolventin der Städelschule und Trägerin des diesjährigen Young Generation Art Award programmiert hat. Ein bräunlich-metallisches Objekt-Ensemble – ovaler Konferenztisch, Bürostuhl und Schubladenschrank – beherbergt die Musikapparaturen. Die modernistisch anmutenden Skulpturen zitieren laut Thủy Tiên Nguyễn Möbel aus dem Unabhängigkeitspalast in Saigon (heute: Ho-Chi-Minh-Stadt). Der in den 1960ern errichtete, heute als Wiedervereinigungspalast bezeichnete Bau diente bis zum Fall der einstigen südvietnamesischen Hauptstadt 1975 als Sitz des Präsidenten der Republik Vietnam.
Im Frankfurter Kunstverein werden Thủy Tiên Nguyễns Musikmöbel beinahe von einer benachbarten Musikinstallation übertönt. Im größten Raum des Steinernen Hauses platziert, verliert sich das mit historischen Referenzen aufgeladene Ensemble beinahe. Es beschwört eine traumhafte, verlassene Kulisse. Inmitten der neuen Frankfurter Altstadt erscheint Thủy Tiên Nguyễns Arbeit geradezu ortsspezifisch: Der Schwung und Transparenz behauptende International Style gleitet hier in eine Märchenwelt hinüber, die sich nach verzauberten Fachwerkfassaden und Glockenspiel zurücksehnt. Dem regressiven Realismus unserer Städte entkommt auch die Kunst nicht.