Ausstellung in London und Köln

Warhol, der queere Migrant

Können wir noch etwas Neues über Andy Warhol lernen? Die Tate Modern in London und das Museum Ludwig in Köln feiern die queere Seite des Pop-Papstes

Wer ins Museum geht, lebt vielleicht länger. Zu diesem Ergebnis kam kürzlich eine Studie. Die Frage, ob das wirklich ein plausibler Effekt ist, hat sich im Moment erübrigt. Aus sinnstiftend wurde ansteckend: Während der Coronavirus-Epidemie sind Museumsbesuche mit einem gewissen Risiko verbunden.

Das gilt auch in London. Für die nach dem Lockdown voraussichtlich wieder im August öffnende Andy-Warhol-Retrospektive in der Tate Modern, gemeinsam mit dem Kölner Museum Ludwig konzipiert, muss man sogar eine ausgeprägte Todessehnsucht mitbringen. Jeder der zwölf Räume hat schon für sich etwas Makabres. Es geht um Suizid und Flugzeugabsturz, Überdosis und Attentat. Die biografische Reise durch Warhols Werk führt in die Dunkelheit. Die Ausstellung schließt mit "Sixty Last Suppers" (1986), das sind 60 schwarze Siebdruck-Kopien von Leonardo da Vincis "Abendmahl", die als Requiem für die Opfer der Aids-Epidemie gelten.

Mit Reproduktionstechniken hat Andy Warhol stets die Frage gestellt, wie Wert auf dem Kunstmarkt bestimmt wird. Die vielen ins Dunkel drängelnden Londoner, einige mit Mundschutz oder Schal verhüllt, geben ihm zu Beginn der Laufzeit der Ausstellung durch ihr massenhaftes Kommen eine Antwort darauf.

Legenden gegen Legenden

Am Eingang, neben Andy Warhols Kinderfoto, läuft das fünfstündige Video "Sleep", das Warhol 1963 von dem nackt schlafenden Lyriker John Giono drehte. Das ist eine clevere Wahl, denn "Sleep" vereint gleich einige der Affronts, die Warhol sich im Lauf der nächsten Jahre leisten würde. Da wäre einmal Warhol, der Anti-Künstler, der zum allgemeinen Entsetzen lauter Siebdrucke der ödesten Alltagsdinge präsentierte. Und dann Warhol, der Multimediapionier, dessen Leinwände berühmt waren, der aber für Film, Performance und Journalismus schwärmte und schon in der nächsten Sekunde Silberfolie, Scheinwerfer, Tapete, einen Staubsauger oder seinen eigenen Urin verwenden mochte.

Am meisten sind die Kuratoren an jenem Andy Warhol interessiert, der als schwuler Mann gar nicht so verschämt und blass war, wie die silberblonde Perücke und die Legende um ihn den Leuten weismachen wollten. Seine dezidiert queere und migrantische Seite (die Eltern Varhola stammten aus der heutigen Slowakei) zu betonen, war der Aufhänger für die neue Retrospektive.

Der lustigste Vorwurf, den man den Museen dafür machen kann, ist sicher der der Identitätspolitik. Zwar klebt ein großes Label an den 25 neu entdeckten Porträts von dunkelhäutigen Dragqueens ("Ladies and Gentleman", 1975) und an den erotischen Männer-Zeichnungen aus den 50er-Jahren. Aber die 32 identischen Suppen haben ja auch so ein Label. Ihm ging es immer um den Effekt der Vereinfachung, der Wiederholung und der Variation von Gleichem. Umso schöner, wie individuell die Bilder der queeren Modelle geraten sind, wie er die einzelnen Charakterzüge trifft, mit dem Bleistift oder der Polaroidkamera.

So werden die strahlenden Namen der Ikonen (Marilyn, Marlon, auch Mao) und die Binsenweisheiten zu diesen Übermenschen (die farbigen Porträts zeigen Marilyn Monroes öffentliches Bild, die schwarzen aber ihr privates Ich) hier in den Schatten gestellt von den selbstgewählten Namen der Nobodys.

Zwischen den Welten

Ein echter Amerikaner lebt eben zwischen den Welten: Mit den Kommissionen der Promis, zu je 25.000 Dollar, finanzierte Warhol sich ein ausschweifendes Leben. Aus Italien kam eine weitere Million Dollar mit dem Auftrag des Kunsthändlers Luciano Anselmino, die Marginalisierten New Yorks nun genauso theatralisch zu zeigen. Warhol zahlte den Dragqueens eine Entschädigung von 50 Dollar, bevor er sie auf dem Straßenstrich wieder aus den Augen verlor. Die Leiche der Aktivistin Marsha Johnson wurde 1992 im Hudson River gefunden. Wilhelmina Ross, von der Warhol 78 Arbeiten anfertigte, starb wohl an Aids oder ihrer Crack-Abhängigkeit.

Was war Warhols Mission? Die vier bunten "Skulls" (1976) seien ein Porträt aller Menschenschädel und somit aller Menschen, heißt es in der Tate. Das Knallrot der Fertig-Suppe begegnet uns wieder in Gestalt von Hammer und Sichel (1976), die Sichel mit einem gut lesbaren Modellnamen, als hätte sie im gleichen Warenkorb gelegen. Und die Farbe, die Mao Zedong erst allmählich wie Schminke von der Lippe läuft, wird bei den Dragqueens von Pinselstrich und Finger weit über die Linien hinaus getragen, in einen Schatten wie ein zweites Selbst. Manchmal scheint die Kontinuität zwischen den Serien und ihren Subjekten größer als zwischen den Bildern einer Serie zu sein.

Hoffentlich wird es auch in Zukunft schön vollgestopfte Retrospektiven geben, um Mythen richtigzustellen und zu erneuern. In den Kritiken zur Ausstellung wird an einer Stelle betont, der fromme Warhol hätte nur selten die katholische Messe verpasst. In einem anderen Medium schreibt jemand, Warhol hätte die Messe gemieden. Als sicher gilt im Moment, dass Andy Warhol das Weihwasser zu Hause gern als ein "himmlisches Desinfektionsmittel" benutzte.