Was wir vermissen (1)

Anstehen

Coronabedingt wird es nicht so schnell wieder Festivals, Kunstmessen und große Eröffnungen geben. Ein Glossar von Dingen, die wir vermissen. Teil 1: Schlangestehen

"Keiner in der Kunstwelt will anstehen oder beim Anstehen gesehen werden", schrieb der Monopol-Autor Oliver Koerner von Gustorf kürzlich in seinem Plädoyer für Commons in der Kunst. "Auch wenn das Konto leer ist oder es nur noch für die Bodylotion reicht, gilt es, Privilegien und Exklusivität zu bewahren." Diese Beobachtung ist sicher richtig, denn kaum etwas spricht deutlicher von Insidertum und sozialem Kapital, als eiskalt lächelnd an einer Schlange vorbeizuschreiten und die Türsteher mit Küsschen zu begrüßen. Küsschen geht wegen der Corona-Pandemie gerade nicht so gut. Und auch die Schlangen haben erheblich an Glamour eingebüßt. Meist steht man gesichtsverhüllt mit Sicherheitsabstand vor dem Supermarkt oder – noch schlimmer und länger – vor der Post. Es gibt weder Gästeliste noch "Ich bin ein Freund von ..." noch das erflunkerte Arbeitsverhältnis mit Kurator Klaus Biesenbach, das unsere Kolumnistin Anna Gien einst als Einlassgaranten für jede Party empfohlen hat.

Und während man sich also stoisch demokratisch für zwei Briefmarken die Jogginghosenbeine in den Bauch steht, kann man darüber nachdenken, ob Schlangestehen als soziale Plastik nicht an sich etwas Schönes sein kann - zumindest wenn man auf etwas Schönes wartet. Nüchtern betrachtet visualisiert die Schlange ein Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage und bringt Menschen zusammen, die auf irgendeine Art dasselbe wollen. Unbezahlte Geduldsarbeit könnte man es nennen. Aber auch eine ganz unalgorhithmisch zusammengewürfelte Konstellation von Charakteren, die ungewöhnlich viel Potenzial für Interaktion und überraschende Begegnungen birgt ("Geht das voran hier?", "Steh ihr schon lange?", "Lohnt sich das?", "Wo kommt ihr her?"). Wie der Künstler Gregor Schneider sein Publikum 2007 am eigenen frierenden Leib erfahren ließ, kann Schlangestehen selbst ein Kunstwerk sein. Schneider hatte eine große Performance im Magazin der Staatsoper Berlin angekündigt. Da wollten natürlich alle rein und stellten sich brav um mehrere Straßenecken an. Als dann endlich etwas passierte, erfuhren die Geduldigen, dass es das schon war. The Rumstehen was the message.     


Auch der slowakische Künstler Roman Ondak lässt bei seinen Ausstellungen seit 2003 regelmäßig gecastete Statisten oder Freiwillige aufmarschieren. Sie warten an einer Stelle vor oder im Kunstraum, an der tatsächlich etwas passieren könnte. Das Publikum muss selbst entscheiden, was es mit der Information aus aufgereihten Körpern macht. Ignorieren, einordnen, fragen, was hier los ist?  

Was begehrt ist, wird oft noch begehrenswerter, und der Kunstbetrieb lechzt nach dem immateriellen Kapital der Publikumsaufregung. "Es gibt keine Beschreibung der Schlange", sagt Roman Ondak. "Es geht um Gefühle, um Verlangen und um die Entscheidung, sich einzureihen. Ich mag die Ambivalenz der Schlange in unserer Gesellschaft." An jedem Ort wird eine Menschenschlange anders gelesen. Ondak hat eine ganze Publikation mit historischen Bildern von aufgereihten Menschen gefüllt. Die Frage "Auf was warten die alle?" bleibt offen. Eine Schlange vor einem Supermarkt kann von Mangelwirtschaft zeugen, wie der Künstler es in der ehemaligen Tschechoslowakei erlebt hat. Schlangen vor den Tafeln oder der Agentur für Arbeit stehen für prekäre ökonomische Zustände. Vor Clubs oder After-Show-Party-Locations visualisieren sie dagegen die Lust auf Überfluss: Sie sind die nötige die Disziplin vor dem Exzess. Hinter der unbeteiligten Miene kribbelt im Bauch die Angst vor der Erniedrigung des Abgewiesenwerdens.

Diese Form des eng gedrängten, kommunikativen und aufgekratzten Anstehens vor etwas Schönem wird uns noch eine Weile fehlen. Eine Berlinale oder eine Biennale kann man sich ohne das Warten vor Tickethäuschen oder den spektakulärsten Pavillons nicht wirklich vorstellen. Das Reinkommen ist dann wie ein verdienter Lohn, der ein Kunsterlebnis verstärken kann. Das unberechenbare, stotternde Vorankommen zwischen Vorfreude und Frustration ist eine Verkörperung von Ambivalenz. Eine ziemlich gute Metapher für ziemlich vieles im Leben. Es geht langsam, aber es geht voran.