Architekturgeschichte der 1990er

Ein aufregendes Jahrzehnt der Zwischenzustände

Hysterisch und nüchtern, dörflich und urban, Öko und High-Tech, zertrümmert und schöpferisch: Die deutsche Modernde der 1990er-Jahre war immer sowohl als auch. Ein neuer Band widmet sich der faszinierenden Bau-Vielfalt

Von Weitem könnte man das Ensemble glatt für eine futuristische Fertigungshalle oder ein neues Fahrgeschäft halten. Oder, ganz entfernt vielleicht, ein unbekanntes Stillleben der späten Jan Groover? Bei näherer Betrachtung aber kristallisieren sich die Rolltreppen, Rück- und Vorderseite, die Laufgänge, Balustraden und Deckenspiegel aus diesem Kaleidoskop in Rot, Blau und Edelstahl heraus

Es ist die Frankfurter Zeilgalerie, die das Buchcover eines neuen Architekturbandes ziert: eine im Verhältnis zu den großen Shoppingmalls unserer Zeit eher bescheiden dimensionierte Einkaufspassage in der Frankfurter Innenstadt, 1992 eröffnet, zwischenzeitlich unter dem Namen "Les Facettes" vermarktet (muss man mehr über die frühen 90er-Jahre als Sehnsuchtsjahrzehnt sagen?) und heute schon nicht mehr existent.

Schnell wird die Dringlichkeit von "Das Ende der Moderne? Unterwegs zu einer Architekturgeschichte der 1990er Jahre" klar, das die Ergebnisse einer gleichnamigen Online-Tagung des nichtkommerziellen Magazins "Moderne Regional" im Sommer 2021 präsentiert: Abgerissen wird dieser Tage schnell, bevor die jüngere bauliche Vergangenheit überhaupt erst richtig erfasst werden konnte. Die 90er-Jahre sind schließlich ein merkwürdiges Jahrzehnt, dessen Ästhetiken in Mode, Kunst und Film heiß geliebt werden, das aber architektonisch ein bisschen zwischen den Stühlen klemmt. Das weder Fisch noch Fleisch scheint. "Halb modern und halb anders". Auch die Selbstverortung jener Zeit zeugt hiervon: War das nun die Post- oder Welt- oder Transmoderne, Konstruktivismus oder Dekonstruktivismus, New Urbanism oder die Medien-Architektur?

Formvollendet Schwung holen

Gerade in diesen Zwischenzuständen und dem architektonischen Ausloten von Widersprüchen erkennen die Autorinnen und Autoren ein durchaus aufregendes Jahrzehnt, in dem die Moderne "noch einmal formvollendet Schwung" für eine neue Runde holte. Jene Moderne wird hier nicht streng kunsthistorisch, sondern als ein Rudiment von gesellschaftlichem Zukunftsoptimismus, eine Wette auf noch zu erwartende Verbesserungen interpretiert. Folgerichtig wird besagte Zeitspanne mit dem Fall der Mauer eingeläutet und mit dem Terroranschlag auf das World Trade Center 2011 schlagartig beendet. Und tatsächlich scheint das, was danach kam, auch städtebaulich bemerkenswert trister – doch das ist ein Kapitel für sich.

Die Moderne der 1990er-Jahre in Deutschland war also immer "sowohl als auch": Hysterisch und nüchtern, dörflich und urban, Öko und High-Tech, zertrümmert und schöpferisch. Wie die Bauten von Doris und Hinrich Baller, denen im Buch ein eigener Essay gewidmet wird. Beinahe außerirdisch wirken die opulent verspielten Häuser des Berliner Architektenpaares, wie aus zersplitterten Elementen neu zusammengesetzt; definitiv in ihrer eigenen Welt zu Hause und trotzdem bemerkenswert wohnlich.

Auch kleine Formate rücken in den Fokus: Wie im Giebelfeld eines Cottbuser Wohnhauses plötzlich das Fertigungsjahr 1990 auftaucht (auch das Aufeinandertreffen von Ost und West befeuert die architektonische Alchemie der 90er-BRD-Jahre). Wie einerseits neue ökologische Wohnkonzepte ausprobiert, andererseits neue Wolkenkratzer zum Arbeiten in die Höhe gezogen werden.

Eine Telekom-Moderne in Silbergrau und Magenta

In den bundesdeutschen Gewerbegebieten bricht sich derweil eine ganz neue Gestaltungsfreude Bahn – ein Nachwirken der Postmoderne, die sich nun auch auf den aufstrebenden Mittelstand und seine zunehmend günstiger zu gestaltenden Geschäftsbauten ausdehnte. Bullaugen-Fenster, Pagoden-Dächer und Skulpturen aus geometrischen Körpern in Lila und Türkis bevölkerten jetzt die bis dato öden Niemandsflächen. Eine Telekom-Moderne quasi, in Silbergrau und Magenta, aus Glasflächen und Edelstahl.

"Das Ende der Moderne?" versammelt Mikro- und Makrobetrachtungen zu den Themenfeldern Grenzen, Wohnen, Arbeiten und Freizeit. Im öffentlichen Raum treffen sich Kommerz und Privates. So in den Einkaufstempeln wie der eingangs genannten Zeilgalerie in Frankfurt, die von Rüdiger Kramm komplett stufenlos vom Eingang bis zum Dach konzipiert wurde. So konnten Besucherinnen und Besucher wie auf einer fortgeführten Einkaufsstraße an zahlreichen Einzelgeschäften mit ihren Schaufenstern vorbeiflanieren. Ein eigenes Farbkonzept einschließlich Uniformen für damals eingeplante Hostessen sowie die "Polychrome Wolke", eine durch den gesamten Innenraum platzierte Installation des Künstlers und Architekten Leonardo Mosso, trugen zum immersiven Raumerlebnis bei. Julia Zinnbauer beschreibt das Bauwerk in ihrem Beitrag so anziehend, dass man auch den Schmerz um den plötzlichen Verlust mit der Autorin unbedingt teilen kann.

Frisch entfachte Nostalgie ließe sich auch als Leitmotiv für das Layout dieses Lesebands mit seinem pinken Cover, den bunten Zwischenseiten, übersichtlich gestalteten Beiträgen und vielen Archivfotografien teils längst abgerissener Perlen ausmachen. Das ganz große Auftrumpfen war erst einmal vorbei. Aber auch die 90er-Jahre hatten architektonisch – siehe nicht zuletzt die aktuelle Wiederentdeckung von Doris und Hinrich Baller – einiges zu bieten. Und die Spurensicherung hat gerade erst begonnen.