Art brut in Paris

Kunst im Rohzustand

Art brut entwischt jeder Kategorie, auch den meisten Museen ist sie zu "roh". Das Grand Palais in Paris widmet dieser höchst eigensinnigen Kunst dennoch eine Ausstellung mit rund 400 Arbeiten

Kunst ist, was Künstlerinnen und Künstler machen, sagte man gern, nachdem die "-Ismen", die festgefügten, identifizierbaren Kunstrichtungen, sich erschöpft hatten und keine Schubladen mehr zur Verfügung standen. Aber natürlich bildeten sich doch immer wieder neue Richtungen, neue Gemeinsamkeiten und neue, vorübergehende Moden aus.

Davon völlig unberührt blieb Kunst, die sich um Kategorisierung ebenso wenig scherte wie um Vermarktbarkeit. Die einfach das war, was ihre Urheberinnen und Urheber gemacht hatten. Eine Kunst außerhalb des Kunstbetriebs. Der Maler Jean Dubuffet sah solche Werke als Kunst im Rohzustand an und nannte sie "Art brut", rohe Kunst, die für ihn im Grenzbereich von psychischer wie auch gesellschaftlicher Normalität angesiedelt war.

Längst wird die "rohe Kunst" in Museen gesammelt. Aber sie bleibt sperrig, eben weil sie sich nicht kategorisieren lässt, weder nach Material noch nach Stil oder gar nach Themen. Wie sperrig sie ist, erweist sich beim Besuch des – kürzlich nach umfassender Sanierung wiedereröffneten – Grand Palais in Paris. Dort zeigt das Nationalmuseum moderner Kunst, das bereits aus dem sanierungsbedürftigen Centre Pompidou ausgezogen ist, rund 400 Arbeiten aus einer 1000 Werke umfassenden Sammlung, die dem Museum unlängst als Schenkung zugegangen ist, der Sammlung Decharme.

Traumata und Geheimnisse 

Gleich zu Beginn stellt sich den Besucherinnen und Besuchern ein Flugzeugmodell in den Weg, das ungeachtet seiner Größe von gut 2 mal 2 Metern nicht etwa aus Holz oder einem anderen festen Material geformt ist, sondern aus zusammengekleisterten Pappen und Papieren. Dieses Flugzeug will keinen Flug simulieren, sondern stellt gewissermaßen den Begriff "Flugzeug" dar. Es stammt von dem 1949 geborenen Hans-Jörg Georgi, der zum Kreis des Frankfurter Ateliers Goldstein zählt, das sich "Künstlern mit kognitiver Behinderung" widmet.

Dann stoßen die Besucherinnen und Besucher auf ungemein detailreiche Zeichnungen, die aus Schachteln hervorgehen oder ursprünglich zusammengebunden sind; wie Logbücher der inneren Befindlichkeit. Es sind Werke, die nicht auf eine Betrachterin oder einen Betrachter zielen, sondern im Gegenteil verborgen bleiben, offenkundig nur ihrem jeweiligen Schöpfer. 

So von dem 2015 verstorbenen Zdenek Kosek, der sich nach einem traumatischen Erlebnis in seine eigene Welt zurückgezogen hatte. Von ihm stammt das im umfangreichen Katalog wiedergegebene Zitat, "Wenn ich nicht versuchte, die Probleme der Welt zu lösen, wer sonst würde es dann machen?"

Innere Widersprüche

Diese Frage bietet einen Schlüssel zum Verständnis der so ungemein heterogenen Werke. Sie mögen der jeweiligen, höchst individuellen Weltsicht ihrer Schöpfer entstammen, aber sie meinen – häufig, nicht immer – die ganze Welt, die Welt außerhalb des eigenen, zum alleinigen Bezugspunkt gewordenen Ich.

Auffällig ist der häufige Gebrauch der Schrift, ob lesbar oder verfremdet; eindeutig nicht dekorativ, sondern um die Aussage, die darin verborgen und nur dem Eingeweihten verständlich ist, in ihrer Bedeutung zu betonen. Schon Adolf Wölfli, der seit Jahrzehnten zu Ausstellungsruhm gekommene Patient des Berner Hospitals Waldau, dem sein ärztlicher Betreuer bereits 1921 eine Veröffentlichung widmete, beschreibt in wahren Satzgirlanden, was er zugleich ausufernd zeichnet. Seine Arbeiten bilden den Abschluss der Ausstellung im Grand Palais im Kapitel "Himmlische Epen". Unter diesem Titel waren Teile der Sammlung von Bruno Decharme bereits ausgestellt, die hier nun anlässlich ihrer Überführung ins Museum in gleich elf Kapital aufgefächert wird.

Dabei handelt es sich, streng genommen, um einen Widerspruch, denn die Art brut kennzeichnet sich doch gerade durch ihre Nicht-Kategorisierbarkeit. Berührungen gibt es mit dem Spiritualismus, der in Europa um 1900 herum waberte und auch aufgeklärte Köpfe an Séancen teilnehmen ließ, und mit dem Animismus in Afrika und Lateinamerika. 

Wo die Geister real sind, treffen auch ihre Darstellungen oder zeichnerischen Beschwörungen auf allgemeines Verständnis. "Brasilien" ist ein eigenes Unterkapitel gewidmet, mit Holzplastiken von Fernando Rodrigues dos Santos, die an die monumentalen Köpfe der Osterinsel erinnern, und Farbzeichnungen von Raimundo Camilo, der sich im Getriebe der Großstadt Rio verlor und 1964 in die Psychiatrie kam, wo er im Bett zu zeichnen begann.

Erkundung des Ich

Wo Normalität endet und Abweichung beginnt, lässt sich heute weniger denn je bestimmen. Eine Bezeichnung wie "Bildnerei der Geisteskranken", so verdienstvoll das 1922 unter diesem Titel erschienene Buch des Psychiaters Hans Prinzhorn auch war, ist zum Glück außer Gebrauch gekommen. Von jeglicher Stigmatisierung frei, lässt sich die Pariser Ausstellung als eine Erkundung des schöpferischen Ich betrachten – und bestaunen. Den Besucherinnen und Besuchern bleibt nur die ästhetische Wahrnehmung.

Denn die Werke, die da mit ungeheurer Mühe und ebensolcher Inspiration geschaffen wurden, sind keiner Schule, keiner Akademie und überhaupt keiner Nachahmung geschuldet - genau so, wie Jean Dubuffet es definiert hatte - sondern sind jeweils gänzlich neu und einzigartig; freilich um den Preis der Vereinsamung, in der allein der Schöpfer sein Werk verstehen kann. Die Heilung oder Rettung der Welt, wie eingangs zitiert, gelingt nur im eigenen Kopf.