Biennale in Rumänien

In der Ruhe liegt die Kraft

In Timișoara, wo 1989 die rumänische Revolution entflammte, zeigt die Art-Encounters-Biennale herausragende politische Kunst ohne Überbau

Zur Art-Encounters-Biennale im rumänischen Timișoara reist man am besten mit dem Zug an. Nicht nur aus Gründen des Umweltschutzes, sondern auch, weil man dann bereits in der Unterführung des Hauptbahnhofs von einem der interessantesten Ausstellungswerke begrüßt wird. Dan Acostioaeis Wandmosaik sendet in großen, roten Lettern ein "Souvenir de Syrie", darunter lächeln einem verschleierte Frauen mit Wasserkrügen entgegen.

Den Gruß aus Syrien erhielt Acostioaei Mitte der 70er-Jahre von seinem Vater, der damals wie viele andere Rumänier als Gastarbeiter im mittleren Osten tätig war. Rumänien gehörte zwar nicht zu den blockfreien Staaten, entzog sich mit seiner Außenpolitik jedoch der binären Ost-West-Logik des Kalten Kriegs. In hellinistische Mosaikform übersetzt und im Kontext gegenläufiger Migrationsflüsse bertachtet, wird die Postkartenidylle zur vielschichtigen Reflexion über globale Bewegungen und Wahrnehmungsverschiebungen in Anbetracht fremder Kulturen.

Ein übergreifendes Thema hat die in diesem Jahr zum dritten Mal stattfindende Biennale nicht. Dafür liefert Agnieszka Polska mit ihrem "Wayward Pigeon" eine Art Biennale-Maskottchen, deren gestochen scharfes Antlitz einem im öffentlichen Raum heroisch von Metallzäunen,  Fahnenmasten und Schaufensterauslagen entgegenblickt. "Die Figur des Boten spielt eine zentrale Rolle in meinen Arbeiten", erklärt Polska. Ihre abtrünnige Brieftaube, die sich ihren Instinkten widersetzt und sich weigert, zum Medium fremder Botschaften zu werden, ist eine umherschweifende Gallionsfigur in schmutzgrauem Federkleid. In einer Region, in der die Demarkationslinien sich immer wieder verschoben haben, postuliert sie das Überschreiten von Grenzen als heroischen Akt.

Man begegnet vielen Grenzüberschreitungen auf dieser Biennale. An der Schwelle des Wahrnehmbaren liegen Ane Graff und Trevor Paglen. Graff zeigt vier in Glasvitrinen eingeschlossene Giftkelche, gefüllt mit Substanzen, die in Verbindung zu verschiedenen Autoimmunkrankheiten stehen. Neben ihren mit Tipp-Ex-Flüssigkeit, Amalgam und Metallstaub gefüllten Gefäßen hängen Paglens zurückgenommene Fotografien idyllischer französischer und amerikanischer Küstenlandschaften. Die Bilder zeigen die Orte, an denen die wichtigsten von der NSA angezapften Untersee-Internet-Kabel – vor dem menschlichen Auge verborgen – das Festland erreichen.

Organisches weißes Rauschen

In einem Buchladen unweit des Piața Unirii, auf dem sich eine minzfarbene römisch-katholische Kirche und eine buttergelbe serbisch-orthodoxe Kathedrale gegenüberstehen, spielt Dora García auf einem Kassettenband ein organisches weißes Rauschen ab. In den Archiven des Senders Radio România hat die spanische Künstlerin nach Sprechpausen gesucht und verschluckte Worte, Räusperungen und Atemgeräusche aus den Jahren 1985 bis 1989 zu einer 30-minütigen Soundcollage verwoben. Die Audiodatei verweist auf das Ungesagte der letzten Jahren des Kommunismus, sie verdichtet die Momente der Stille zu einer historischen Patina, wie sie auch an der bunt gemischte Sammlung an Stühlen klebt, die Haegue Yang bei bedeutenden Persönlichkeiten Timișoaras eingesammelt hat und nun im Foyer der modernistischen Universität präsentiert.

Außerhalb des Zeitstroms stehen Virginia Lupus Fotografien rumänischer Hexen. Mit ihrem Kopfschmuck und ihren weißen Gewändern üben sie jahrhundertalte Rituale aus, allein ihre langen Acrylfingernägel, mit denen sie Reisige und goldene Kerzen umfassen, verorten die analogen Fotografien im Jetzt. Hexen gehören zu jenen Bevölkerungsgruppen, die außerhalb der patriachalen Logik des Kapitalismus stehen, nach wie vor werden sie in Rumänien marginalisiert und stigmatisiert. Viele der Hexen auf Lupus Bildern sind Roma, die als drittgrößte Bevölkerungsgruppe Rumäniens erheblicher Diskriminierung ausgesetzt sind.

Auch Małgorzata Mirga-Tas schafft Bilder weiblicher Gemeinschaft und Fürsorge. Aus alten Kleidungsstücken und Textilien von Freundinnen und Familienmitgliedern näht die Roma-Künstlerin Ansichten alltäglicher Szenen, in denen Frauen gemeinsam lachen, rauchen oder der Handarbeit nachgehen und reiht sich damit in die Tradition feministischer Collage ein.

Balanceakt in historischer Kulisse

Zu den spannendsten Ausstellungsorten der Biennale zählt das Jugendzentrum Timișoaras. Erbaut wurde das mit Betonreliefs verzierte Gebäude in den frühen 70er-Jahren als Hauptquartier der kommunistischen Jugendunion, 1990, ein Jahr nach dem Sturz der realsozialistischen rumänischen Regierung, fanden hier die Prozesse gegen Parteifunktionäre und Sicherheitsbeamte statt. Heute gesellen sich von Jugendlichen gestaltete Wandmalereien zu den in Blautönen gehaltenen sozialistischen Wandmosaiken und im einstigen Verhandlungssaal vollzieht der darginische Seiltänzer Rasul Abakarov einen Balanceakt. Taus Makhacheva hat ihnr dabei gefilmt, wie er im Kaukasus-Gebirge Nachbildungen darginischer Gemälde über eine steile Schlucht befördert.

Um die Grenzen der Kunst geht es einen Raum weiter in Ane Hjort Guttus großartigem Video "Time Passes". Der im Dokumentarstil gedrehte Film begleitet die norwegische Kunststudentin Damla im letzten Semester vor ihrer Graduierung. Damla hat mehrere Monate damit verbracht, die rumänische Roma Bianca beim Betteln zu begleiten. Nebeneinander sitzen die beiden stundenlang in den Fußgängerzonen von Bergen, später in der Universität denkt Damla darüber nach, wie sich ihre Partizipation in ein Werk übersetzen lässt und diskutiert mit ihren Kommilitonen leidenschaftlich darüber, ob ihre Praxis zynisch ist oder nicht. Stellenweise wird es humorvoll, doch Guttu macht sich über keine ihrer Figuren lustig. Stattdessen lässt sie sie in den Kolloquien intelligent über Aktionismus und politische Repräsentation diskutieren, ohne dass am Ende jemand eine Lösung parat hat. In der letzten Einstellung steht die Studentin ratlos und verloren im strahlend weißen Ausstellungssaal.

Die von der Schwedin Maria Lind und der Rumänierin Anca Rujoiu kuratierte Schau wird getragen von einer angenehmen Ruhe. Auf der privat finanzierten Biennale gibt es keine immersiven Installationen vor meterhohen Videoscreens und kein uneingelöstes kuratorisches Meta-Narrativ. Stattdessen begegnet man klugen und feinsinnigen Arbeiten, die zeigen, dass politische Kunst eben doch funktionieren kann.